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Roux, Wilhelm: Der Kampf der Teile des Organismus. Leipzig, 1881.

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IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
möglich. So konnten z. B. die inneren Gelenkbänder, die Ligg.
cruciata des Kniegelenks und das Lig. teres des Hüftgelenkes,
wenn sie, wie es für letzteres nach den Untersuchungen von
Welcker1) wahrscheinlich ist, durch functionelle Anpassung
erworben worden sind, nur durch allmähliche Ausbildung der
Gelenkkapsel nach innen bei ganz bestimmter, dies gestattender
Anordnung der das Gelenk bewegenden Muskeln entstehen;
ihre gegenwärtige vollkommene Selbständigkeit wäre demnach
erst eine secundäre, durch weitere Veränderungen der äusseren
Verhältnisse des Muskelapparates erworbene.

Die Aenderungen durch embryonale Variation dagegen,
welche nicht durch den functionellen Reiz, sondern durch mini-
male Aenderungen chemischer Qualitäten oder auf sonstige uns
unbekannte Momente hin entstehen, können eigentlich, so viel
wir es zur Zeit zu beurtheilen vermögen, nach jeder Richtung
hin erfolgen und von jedem Standpunkt aus beliebige neue
Formen hervorbringen. So könnte sie z. B. auf einmal ein
mitten im Gelenk gelegenes, vollkommen von der Wandung
freies Lig. teres hervorgehen lassen, ebenso wie sie auf einmal
einen ganz neuen Muskel, etwa einen Abductor dig. V longus
am Vorderarm hervorbringt. Sind nun aber solche embryonale
Variationen entstanden, so werden sie, wenn die Zeit des Ge-
brauches der Theile kommt, die Function derselben alteriren,
und es wird durch die so erzwungene Aenderung der Function
eine entsprechende Umgestaltung der Theile auf die vorstehend
beschriebene Weise eintreten müssen. Wenn z. B. durch em-
bryonale Variation ein Gelenkkopf verändert worden ist, wer-
den die Muskeln anders gebraucht werden müssen, manche
Gruppen sich stärker ausbilden, andere der Inactivitätsatrophie
mehr oder weniger verfallen. Das Gleiche kann durch em-

1) Welcker, Zeitschr. für Anatomie von His u. Braune, Bd. I u. II.

IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
möglich. So konnten z. B. die inneren Gelenkbänder, die Ligg.
cruciata des Kniegelenks und das Lig. teres des Hüftgelenkes,
wenn sie, wie es für letzteres nach den Untersuchungen von
Welcker1) wahrscheinlich ist, durch functionelle Anpassung
erworben worden sind, nur durch allmähliche Ausbildung der
Gelenkkapsel nach innen bei ganz bestimmter, dies gestattender
Anordnung der das Gelenk bewegenden Muskeln entstehen;
ihre gegenwärtige vollkommene Selbständigkeit wäre demnach
erst eine secundäre, durch weitere Veränderungen der äusseren
Verhältnisse des Muskelapparates erworbene.

Die Aenderungen durch embryonale Variation dagegen,
welche nicht durch den functionellen Reiz, sondern durch mini-
male Aenderungen chemischer Qualitäten oder auf sonstige uns
unbekannte Momente hin entstehen, können eigentlich, so viel
wir es zur Zeit zu beurtheilen vermögen, nach jeder Richtung
hin erfolgen und von jedem Standpunkt aus beliebige neue
Formen hervorbringen. So könnte sie z. B. auf einmal ein
mitten im Gelenk gelegenes, vollkommen von der Wandung
freies Lig. teres hervorgehen lassen, ebenso wie sie auf einmal
einen ganz neuen Muskel, etwa einen Abductor dig. V longus
am Vorderarm hervorbringt. Sind nun aber solche embryonale
Variationen entstanden, so werden sie, wenn die Zeit des Ge-
brauches der Theile kommt, die Function derselben alteriren,
und es wird durch die so erzwungene Aenderung der Function
eine entsprechende Umgestaltung der Theile auf die vorstehend
beschriebene Weise eintreten müssen. Wenn z. B. durch em-
bryonale Variation ein Gelenkkopf verändert worden ist, wer-
den die Muskeln anders gebraucht werden müssen, manche
Gruppen sich stärker ausbilden, andere der Inactivitätsatrophie
mehr oder weniger verfallen. Das Gleiche kann durch em-

1) Welcker, Zeitschr. für Anatomie von His u. Braune, Bd. I u. II.
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[203/0217] IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize. möglich. So konnten z. B. die inneren Gelenkbänder, die Ligg. cruciata des Kniegelenks und das Lig. teres des Hüftgelenkes, wenn sie, wie es für letzteres nach den Untersuchungen von Welcker 1) wahrscheinlich ist, durch functionelle Anpassung erworben worden sind, nur durch allmähliche Ausbildung der Gelenkkapsel nach innen bei ganz bestimmter, dies gestattender Anordnung der das Gelenk bewegenden Muskeln entstehen; ihre gegenwärtige vollkommene Selbständigkeit wäre demnach erst eine secundäre, durch weitere Veränderungen der äusseren Verhältnisse des Muskelapparates erworbene. Die Aenderungen durch embryonale Variation dagegen, welche nicht durch den functionellen Reiz, sondern durch mini- male Aenderungen chemischer Qualitäten oder auf sonstige uns unbekannte Momente hin entstehen, können eigentlich, so viel wir es zur Zeit zu beurtheilen vermögen, nach jeder Richtung hin erfolgen und von jedem Standpunkt aus beliebige neue Formen hervorbringen. So könnte sie z. B. auf einmal ein mitten im Gelenk gelegenes, vollkommen von der Wandung freies Lig. teres hervorgehen lassen, ebenso wie sie auf einmal einen ganz neuen Muskel, etwa einen Abductor dig. V longus am Vorderarm hervorbringt. Sind nun aber solche embryonale Variationen entstanden, so werden sie, wenn die Zeit des Ge- brauches der Theile kommt, die Function derselben alteriren, und es wird durch die so erzwungene Aenderung der Function eine entsprechende Umgestaltung der Theile auf die vorstehend beschriebene Weise eintreten müssen. Wenn z. B. durch em- bryonale Variation ein Gelenkkopf verändert worden ist, wer- den die Muskeln anders gebraucht werden müssen, manche Gruppen sich stärker ausbilden, andere der Inactivitätsatrophie mehr oder weniger verfallen. Das Gleiche kann durch em- 1) Welcker, Zeitschr. für Anatomie von His u. Braune, Bd. I u. II.

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Zitationshilfe: Roux, Wilhelm: Der Kampf der Teile des Organismus. Leipzig, 1881, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roux_kampf_1881/217>, abgerufen am 27.04.2024.