Indem der Baum den zwingenden Nothwendigkeiten der äußeren Verhältnisse sich fügt, indem er bei seiner Entfaltung Rücksicht auf die seiner Nachbarn nimmt, giebt der Baum das Eigenwillige auf, was in seiner Anlage liegt, wird er das Erzeugniß des auf ihn wirkenden be- rechtigten Einflusses ohne sich doch ganz aufzugeben, wird er so zur charaktervollen Persönlichkeit.
Vergleichen wir den knospentragenden Trieb eines Ahorn mit dem einer Eiche (S. 63 Fig. 1. 2.) und erinnern wir uns dabei, daß diese Knospenstellung für diese beiden Bäume ein unabänderliches Gesetz ist, so müßten wir erwarten, daß die Architektur eines Ahorn und einer Eiche sehr von einander verschieden sein müßte. Vergleichen wir aber dann eine alte Eiche und einen alten Ahorn mit einander, so finden wir das Gegentheil: wir werden zwar beide unterscheiden können aber keineswegs durch die steife Regelmäßigkeit der Aststellung, welche in Folge der Knospen- stellung dem Ahorn zukommen müßte. Wir unterlassen nicht, uns hier noch einmal daran zu erinnern, daß so wie die Blätter stehen so auch die Knospen am Triebe, an den Knospen die Schuppen und die Triebe an den Zweigen gestellt sind, nur ganz besonders haben wir uns auch daran zu erinnern, daß die Bäume von der Durchführung dieser Anordnungs- gesetze dadurch befreit werden, daß nicht alle Knospen zur Entfaltung und nicht alle den entfalteten entsprungene Triebe zu gleicher Entwicklung kommen.
Es ist diesem hier noch hinzuzufügen, daß zu diesem Ergebnisse noch ein eigenthümliches Wechselseitigkeits-Verhältniß mitwirkt, welches zwar den einzelnen Baum auf seinen Nachbar einen Einfluß ausüben läßt, welches aber nicht immer bis zum unmittelbaren Handgemenge führt.
Könnten wir uns mit Leichtigkeit in die Wipfel eines Hochwaldes erheben, so würden wir zwar das Gezweig der benachbarten Bäume sich vielfach durchschlingen und berühren sehn; dieß ist aber nicht ein Ringen um die Vortheile des Lebens, sondern ein Theilen derselben zwischen Solchen, welche sich zu Gleichberechtigten emporgearbeitet haben. Anders ist es, wenn wir das sogenannte unterdrückte Unterholz zwischen den Stämmen des Hochwaldes ansehen. Die Nachstrebenden sind kaum Nachstrebende zu nennen, sie bleiben in der Dürftigkeit ihrer niederen Stellung und es kommt in der Regel gar nicht bis zu einer unmittelbaren Berührung
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Indem der Baum den zwingenden Nothwendigkeiten der äußeren Verhältniſſe ſich fügt, indem er bei ſeiner Entfaltung Rückſicht auf die ſeiner Nachbarn nimmt, giebt der Baum das Eigenwillige auf, was in ſeiner Anlage liegt, wird er das Erzeugniß des auf ihn wirkenden be- rechtigten Einfluſſes ohne ſich doch ganz aufzugeben, wird er ſo zur charaktervollen Perſönlichkeit.
Vergleichen wir den knospentragenden Trieb eines Ahorn mit dem einer Eiche (S. 63 Fig. 1. 2.) und erinnern wir uns dabei, daß dieſe Knospenſtellung für dieſe beiden Bäume ein unabänderliches Geſetz iſt, ſo müßten wir erwarten, daß die Architektur eines Ahorn und einer Eiche ſehr von einander verſchieden ſein müßte. Vergleichen wir aber dann eine alte Eiche und einen alten Ahorn mit einander, ſo finden wir das Gegentheil: wir werden zwar beide unterſcheiden können aber keineswegs durch die ſteife Regelmäßigkeit der Aſtſtellung, welche in Folge der Knospen- ſtellung dem Ahorn zukommen müßte. Wir unterlaſſen nicht, uns hier noch einmal daran zu erinnern, daß ſo wie die Blätter ſtehen ſo auch die Knospen am Triebe, an den Knospen die Schuppen und die Triebe an den Zweigen geſtellt ſind, nur ganz beſonders haben wir uns auch daran zu erinnern, daß die Bäume von der Durchführung dieſer Anordnungs- geſetze dadurch befreit werden, daß nicht alle Knospen zur Entfaltung und nicht alle den entfalteten entſprungene Triebe zu gleicher Entwicklung kommen.
Es iſt dieſem hier noch hinzuzufügen, daß zu dieſem Ergebniſſe noch ein eigenthümliches Wechſelſeitigkeits-Verhältniß mitwirkt, welches zwar den einzelnen Baum auf ſeinen Nachbar einen Einfluß ausüben läßt, welches aber nicht immer bis zum unmittelbaren Handgemenge führt.
Könnten wir uns mit Leichtigkeit in die Wipfel eines Hochwaldes erheben, ſo würden wir zwar das Gezweig der benachbarten Bäume ſich vielfach durchſchlingen und berühren ſehn; dieß iſt aber nicht ein Ringen um die Vortheile des Lebens, ſondern ein Theilen derſelben zwiſchen Solchen, welche ſich zu Gleichberechtigten emporgearbeitet haben. Anders iſt es, wenn wir das ſogenannte unterdrückte Unterholz zwiſchen den Stämmen des Hochwaldes anſehen. Die Nachſtrebenden ſind kaum Nachſtrebende zu nennen, ſie bleiben in der Dürftigkeit ihrer niederen Stellung und es kommt in der Regel gar nicht bis zu einer unmittelbaren Berührung
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Indem der Baum den zwingenden Nothwendigkeiten der äußeren
Verhältniſſe ſich fügt, indem er bei ſeiner Entfaltung Rückſicht auf die
ſeiner Nachbarn nimmt, giebt der Baum das Eigenwillige auf, was in
ſeiner Anlage liegt, wird er das Erzeugniß des auf ihn wirkenden be-
rechtigten Einfluſſes ohne ſich doch ganz aufzugeben, wird er ſo zur
charaktervollen Perſönlichkeit.
Vergleichen wir den knospentragenden Trieb eines Ahorn mit dem
einer Eiche (S. 63 Fig. 1. 2.) und erinnern wir uns dabei, daß dieſe
Knospenſtellung für dieſe beiden Bäume ein unabänderliches Geſetz iſt,
ſo müßten wir erwarten, daß die Architektur eines Ahorn und einer Eiche
ſehr von einander verſchieden ſein müßte. Vergleichen wir aber dann
eine alte Eiche und einen alten Ahorn mit einander, ſo finden wir das
Gegentheil: wir werden zwar beide unterſcheiden können aber keineswegs
durch die ſteife Regelmäßigkeit der Aſtſtellung, welche in Folge der Knospen-
ſtellung dem Ahorn zukommen müßte. Wir unterlaſſen nicht, uns hier
noch einmal daran zu erinnern, daß ſo wie die Blätter ſtehen ſo auch die
Knospen am Triebe, an den Knospen die Schuppen und die Triebe an
den Zweigen geſtellt ſind, nur ganz beſonders haben wir uns auch daran
zu erinnern, daß die Bäume von der Durchführung dieſer Anordnungs-
geſetze dadurch befreit werden, daß nicht alle Knospen zur Entfaltung und
nicht alle den entfalteten entſprungene Triebe zu gleicher Entwicklung
kommen.
Es iſt dieſem hier noch hinzuzufügen, daß zu dieſem Ergebniſſe noch
ein eigenthümliches Wechſelſeitigkeits-Verhältniß mitwirkt, welches zwar
den einzelnen Baum auf ſeinen Nachbar einen Einfluß ausüben läßt,
welches aber nicht immer bis zum unmittelbaren Handgemenge führt.
Könnten wir uns mit Leichtigkeit in die Wipfel eines Hochwaldes
erheben, ſo würden wir zwar das Gezweig der benachbarten Bäume ſich
vielfach durchſchlingen und berühren ſehn; dieß iſt aber nicht ein Ringen um
die Vortheile des Lebens, ſondern ein Theilen derſelben zwiſchen Solchen,
welche ſich zu Gleichberechtigten emporgearbeitet haben. Anders iſt es,
wenn wir das ſogenannte unterdrückte Unterholz zwiſchen den Stämmen
des Hochwaldes anſehen. Die Nachſtrebenden ſind kaum Nachſtrebende
zu nennen, ſie bleiben in der Dürftigkeit ihrer niederen Stellung und
es kommt in der Regel gar nicht bis zu einer unmittelbaren Berührung
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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/235>, abgerufen am 22.12.2024.
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