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Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778.

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Gottes zu begnadigen.
sten Versorger und Beschützer habe ich schändlich
verlaßen, und seine wohlthätigen Befehle ganz aus
den Augen gesetzt. Er überhäufte mich mit Wohl-
thaten; und ich häufte Sünden mit Sünden. Er
wollte durch Güte mich zu sich leiten; und ich ent-
fernte mich immer weiter von ihm. Er rührte oft
mein Gewißen bald auf diese bald auf iene Art;
und ich verachtete nicht nur diese warnende Stim-
me, sondern stärkte mich noch dazu in meiner Bos-
heit. Er that das Aeußerste mich glücklich zu ma-
chen, so daß er auch seines eingebohrnen Sohnes
nicht verschonte, sondern ihn für mich großen Sün-
der dahin gab, und ich war um mein wahres Wohl
ganz unbekümmert. O wie unbesonnen, wie un-
dankbar und strafwürdig war nicht mein Verhal-
ten! Gott, mein Schöpfer und höchster Wohl-
thäter, darf ich dich noch Vater nennen? Darf
ich hoffen, daß du, ohnerachtet so vieler Vergehun-
gen und Sünden, mich noch für dein Kind erkennen
werdest? Ich bekenne es mit der demüthigsten
Reue, ich hätte verdient von deinem Angesichte auf
ewig verstoßen zu werden; ich bin hinfort nicht
mehr werth, daß ich dein Kind heiße.

So muß der Sünder nothwendig sein Unrecht
erkennen, und bereuen, wenn er Gnade hoffen will.
Wie groß die Traurigkeit über die Sünden sey, ob
man bis zu Thränen gerührt werde, oder ob man
nur sein Unrecht innerlich im Herzen wehmüthig
empfinde, darauf kommt es nicht so wohl an, als
vielmehr auf die Aufrichtigkeit der Reue, welche
aus eigenem ernsthaften Nachdenken über die Grös-
se, Abscheulichkeit und Strafwürdigkeit der Sün-

den
D 5

Gottes zu begnadigen.
ſten Verſorger und Beſchützer habe ich ſchändlich
verlaßen, und ſeine wohlthätigen Befehle ganz aus
den Augen geſetzt. Er überhäufte mich mit Wohl-
thaten; und ich häufte Sünden mit Sünden. Er
wollte durch Güte mich zu ſich leiten; und ich ent-
fernte mich immer weiter von ihm. Er rührte oft
mein Gewißen bald auf dieſe bald auf iene Art;
und ich verachtete nicht nur dieſe warnende Stim-
me, ſondern ſtärkte mich noch dazu in meiner Bos-
heit. Er that das Aeußerſte mich glücklich zu ma-
chen, ſo daß er auch ſeines eingebohrnen Sohnes
nicht verſchonte, ſondern ihn für mich großen Sün-
der dahin gab, und ich war um mein wahres Wohl
ganz unbekümmert. O wie unbeſonnen, wie un-
dankbar und ſtrafwürdig war nicht mein Verhal-
ten! Gott, mein Schöpfer und höchſter Wohl-
thäter, darf ich dich noch Vater nennen? Darf
ich hoffen, daß du, ohnerachtet ſo vieler Vergehun-
gen und Sünden, mich noch für dein Kind erkennen
werdeſt? Ich bekenne es mit der demüthigſten
Reue, ich hätte verdient von deinem Angeſichte auf
ewig verſtoßen zu werden; ich bin hinfort nicht
mehr werth, daß ich dein Kind heiße.

So muß der Sünder nothwendig ſein Unrecht
erkennen, und bereuen, wenn er Gnade hoffen will.
Wie groß die Traurigkeit über die Sünden ſey, ob
man bis zu Thränen gerührt werde, oder ob man
nur ſein Unrecht innerlich im Herzen wehmüthig
empfinde, darauf kommt es nicht ſo wohl an, als
vielmehr auf die Aufrichtigkeit der Reue, welche
aus eigenem ernſthaften Nachdenken über die Gröſ-
ſe, Abſcheulichkeit und Strafwürdigkeit der Sün-

den
D 5
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[57/0069] Gottes zu begnadigen. ſten Verſorger und Beſchützer habe ich ſchändlich verlaßen, und ſeine wohlthätigen Befehle ganz aus den Augen geſetzt. Er überhäufte mich mit Wohl- thaten; und ich häufte Sünden mit Sünden. Er wollte durch Güte mich zu ſich leiten; und ich ent- fernte mich immer weiter von ihm. Er rührte oft mein Gewißen bald auf dieſe bald auf iene Art; und ich verachtete nicht nur dieſe warnende Stim- me, ſondern ſtärkte mich noch dazu in meiner Bos- heit. Er that das Aeußerſte mich glücklich zu ma- chen, ſo daß er auch ſeines eingebohrnen Sohnes nicht verſchonte, ſondern ihn für mich großen Sün- der dahin gab, und ich war um mein wahres Wohl ganz unbekümmert. O wie unbeſonnen, wie un- dankbar und ſtrafwürdig war nicht mein Verhal- ten! Gott, mein Schöpfer und höchſter Wohl- thäter, darf ich dich noch Vater nennen? Darf ich hoffen, daß du, ohnerachtet ſo vieler Vergehun- gen und Sünden, mich noch für dein Kind erkennen werdeſt? Ich bekenne es mit der demüthigſten Reue, ich hätte verdient von deinem Angeſichte auf ewig verſtoßen zu werden; ich bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Kind heiße. So muß der Sünder nothwendig ſein Unrecht erkennen, und bereuen, wenn er Gnade hoffen will. Wie groß die Traurigkeit über die Sünden ſey, ob man bis zu Thränen gerührt werde, oder ob man nur ſein Unrecht innerlich im Herzen wehmüthig empfinde, darauf kommt es nicht ſo wohl an, als vielmehr auf die Aufrichtigkeit der Reue, welche aus eigenem ernſthaften Nachdenken über die Gröſ- ſe, Abſcheulichkeit und Strafwürdigkeit der Sün- den D 5

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Zitationshilfe: Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/69>, abgerufen am 28.11.2024.