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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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würdiges leisten. Die Malerei aber kann durch die Wohl¬
feilheit ihres Materials und die Leichtigkeit ihrer Production
vielmehr zur Pfuscherei verleitet werden. Der Umfang ihrer
Möglichkeit ist schon unendlich größer, als der der Sculptur:
die Landschaft, das Thier, der Mensch; nichts, was irgend
in die Sichtbarkeit zu treten vermag, ist von ihr ausge¬
schlossen. Zugleich ist sie nach vielen Seiten hin bedingt:
die Umrisse der Gestalten, das Colorit, die Perspective --
was ist hier nicht Alles zu beachten, das als Einheit er¬
scheinen soll! Daher Unrichtigkeit der Zeichnung, Unwahrheit
des Colorits, Falschheit der Perspective so bald sich einschlei¬
chen. Eine Verkürzung, wie bald ist sie verzeichnet! Ein
Farbenton, wie bald vergriffen! Ein Schatten oder ein
Lichtreflex, wie bald vergessen! Es gibt daher ganz un¬
zweifelhaft viel mehr schlechte Gemälde, als Statuen, wobei
man nicht einmal die aus religiösen Principien häßlichen
Indischen und Aegyptischen auszunehmen braucht.

Mit der Musik steigert sich die Leichtigkeit der Production
und mit ihr so wie mit der dieser Kunst eigenen subjectiven
Innerlichkeit die Möglichkeit des Häßlichen. Obwohl nämlich
diese Kunst in ihrer abstracten Form, im Tact und Rhythmus,
auf der Arithmetik beruhet, so ist sie doch in dem, was sie
erst zum wahren, seelenvollen Ausdruck der Idee macht, in
der Melodie, der größten Unbestimmtheit und Zufälligkeit aus¬
gesetzt und das Urtheil, was schön, was nicht schön sei, in
ihr oft unendlich schwer. Daher denn die Häßlichkeit vermöge
der ätherischen, volatilen, mysteriösen, symbolischen Natur des
Tons und vermöge der Unsicherheit der Kritik hier noch mehr
Boden, als in der Malerei, gewinnt.

Endlich in der freiesten Kunst, in der Poesie, erreicht
die Möglichkeit des Häßlichen mit der Freiheit des Geistes und

würdiges leiſten. Die Malerei aber kann durch die Wohl¬
feilheit ihres Materials und die Leichtigkeit ihrer Production
vielmehr zur Pfuſcherei verleitet werden. Der Umfang ihrer
Möglichkeit iſt ſchon unendlich größer, als der der Sculptur:
die Landſchaft, das Thier, der Menſch; nichts, was irgend
in die Sichtbarkeit zu treten vermag, iſt von ihr ausge¬
ſchloſſen. Zugleich iſt ſie nach vielen Seiten hin bedingt:
die Umriſſe der Geſtalten, das Colorit, die Perſpective —
was iſt hier nicht Alles zu beachten, das als Einheit er¬
ſcheinen ſoll! Daher Unrichtigkeit der Zeichnung, Unwahrheit
des Colorits, Falſchheit der Perſpective ſo bald ſich einſchlei¬
chen. Eine Verkürzung, wie bald iſt ſie verzeichnet! Ein
Farbenton, wie bald vergriffen! Ein Schatten oder ein
Lichtreflex, wie bald vergeſſen! Es gibt daher ganz un¬
zweifelhaft viel mehr ſchlechte Gemälde, als Statuen, wobei
man nicht einmal die aus religiöſen Principien häßlichen
Indiſchen und Aegyptiſchen auszunehmen braucht.

Mit der Muſik ſteigert ſich die Leichtigkeit der Production
und mit ihr ſo wie mit der dieſer Kunſt eigenen ſubjectiven
Innerlichkeit die Möglichkeit des Häßlichen. Obwohl nämlich
dieſe Kunſt in ihrer abſtracten Form, im Tact und Rhythmus,
auf der Arithmetik beruhet, ſo iſt ſie doch in dem, was ſie
erſt zum wahren, ſeelenvollen Ausdruck der Idee macht, in
der Melodie, der größten Unbeſtimmtheit und Zufälligkeit aus¬
geſetzt und das Urtheil, was ſchön, was nicht ſchön ſei, in
ihr oft unendlich ſchwer. Daher denn die Häßlichkeit vermöge
der ätheriſchen, volatilen, myſteriöſen, ſymboliſchen Natur des
Tons und vermöge der Unſicherheit der Kritik hier noch mehr
Boden, als in der Malerei, gewinnt.

Endlich in der freieſten Kunſt, in der Poeſie, erreicht
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[50/0072] würdiges leiſten. Die Malerei aber kann durch die Wohl¬ feilheit ihres Materials und die Leichtigkeit ihrer Production vielmehr zur Pfuſcherei verleitet werden. Der Umfang ihrer Möglichkeit iſt ſchon unendlich größer, als der der Sculptur: die Landſchaft, das Thier, der Menſch; nichts, was irgend in die Sichtbarkeit zu treten vermag, iſt von ihr ausge¬ ſchloſſen. Zugleich iſt ſie nach vielen Seiten hin bedingt: die Umriſſe der Geſtalten, das Colorit, die Perſpective — was iſt hier nicht Alles zu beachten, das als Einheit er¬ ſcheinen ſoll! Daher Unrichtigkeit der Zeichnung, Unwahrheit des Colorits, Falſchheit der Perſpective ſo bald ſich einſchlei¬ chen. Eine Verkürzung, wie bald iſt ſie verzeichnet! Ein Farbenton, wie bald vergriffen! Ein Schatten oder ein Lichtreflex, wie bald vergeſſen! Es gibt daher ganz un¬ zweifelhaft viel mehr ſchlechte Gemälde, als Statuen, wobei man nicht einmal die aus religiöſen Principien häßlichen Indiſchen und Aegyptiſchen auszunehmen braucht. Mit der Muſik ſteigert ſich die Leichtigkeit der Production und mit ihr ſo wie mit der dieſer Kunſt eigenen ſubjectiven Innerlichkeit die Möglichkeit des Häßlichen. Obwohl nämlich dieſe Kunſt in ihrer abſtracten Form, im Tact und Rhythmus, auf der Arithmetik beruhet, ſo iſt ſie doch in dem, was ſie erſt zum wahren, ſeelenvollen Ausdruck der Idee macht, in der Melodie, der größten Unbeſtimmtheit und Zufälligkeit aus¬ geſetzt und das Urtheil, was ſchön, was nicht ſchön ſei, in ihr oft unendlich ſchwer. Daher denn die Häßlichkeit vermöge der ätheriſchen, volatilen, myſteriöſen, ſymboliſchen Natur des Tons und vermöge der Unſicherheit der Kritik hier noch mehr Boden, als in der Malerei, gewinnt. Endlich in der freieſten Kunſt, in der Poeſie, erreicht die Möglichkeit des Häßlichen mit der Freiheit des Geiſtes und

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/72>, abgerufen am 28.04.2024.