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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Hermaphrodit mit weiblichem Kopfputz, mit Ohrgehängen,
mit busenhafter Brustanschwellung und breiten Hüftformen,
liegt in einer Landschaft auf schwellende Kissen hingestreckt.
Ein Satyr, durch den Anschein von Weiblichkeit getäuscht,
hat von ihm eine Decke weggezogen. Lüstern blickt der Her¬
maphrodit nach ihm hin, aber der Satyr, der nicht, wie
er erwartet, eine Nymphe gefunden, fliehet entsetzt, wagt
nicht sich umzuschauen und streckt abwehrend die Hände zurück.
Die Kunst darf nicht von der Individualisirung lassen, will
sie nicht die wahre Poesie aufgeben. Sie soll das Wesen,
aber sie soll es als concrete Erscheinung darstellen. Das
Allgemeine als Allgemeines ist Sache der Wissenschaft, nicht
der Kunst. Diese muß sich daher vor solchen Verallgemei¬
nerungen hüten, welche die Individualität absorbiren. In
der Fortsetzung der Consuelo, in der Gräfin von Rudol¬
stadt, namentlich aber im Epiloge, ist die G. Sand z. B.
dieser an sich edlen aber unkünstlerischen Verzerrung ver¬
fallen. Consuelo als Zingara und ihr Mann als Trisme¬
gistus werden endlich zu den reinen Menschen, zu den
Menschen als solchen
. Trismegistus rief: "Bin ich nicht
der Mensch? Warum soll ich nicht sagen, was die mensch¬
liche Natur verlangt und also auch verwirklicht? Ja, ich
bin der Mensch, also kann ich sagen, was der Mensch
will und was er wirken wird. Wer die Wolke aufsteigen
sieht, kann den Blitz und den Orkan voraussagen. Ich
weiß, was ich in meinem Herzen trage und was daraus
hrrvorgehen wird. Ich bin der Mensch und stehe in Be¬
zug mit der Menschheit meiner Zeit. Ich habe Europa
gesehen" u. s. w. Pure, prosaische Abstraction! Solche
Werke können nobel, können schön sein, allein ihr Adel wie
ihre Schönheit sind auf einem Abwege der Verzerrung ins

Hermaphrodit mit weiblichem Kopfputz, mit Ohrgehängen,
mit buſenhafter Bruſtanſchwellung und breiten Hüftformen,
liegt in einer Landſchaft auf ſchwellende Kiſſen hingeſtreckt.
Ein Satyr, durch den Anſchein von Weiblichkeit getäuſcht,
hat von ihm eine Decke weggezogen. Lüſtern blickt der Her¬
maphrodit nach ihm hin, aber der Satyr, der nicht, wie
er erwartet, eine Nymphe gefunden, fliehet entſetzt, wagt
nicht ſich umzuſchauen und ſtreckt abwehrend die Hände zurück.
Die Kunſt darf nicht von der Individualiſirung laſſen, will
ſie nicht die wahre Poeſie aufgeben. Sie ſoll das Weſen,
aber ſie ſoll es als concrete Erſcheinung darſtellen. Das
Allgemeine als Allgemeines iſt Sache der Wiſſenſchaft, nicht
der Kunſt. Dieſe muß ſich daher vor ſolchen Verallgemei¬
nerungen hüten, welche die Individualität abſorbiren. In
der Fortſetzung der Conſuelo, in der Gräfin von Rudol¬
ſtadt, namentlich aber im Epiloge, iſt die G. Sand z. B.
dieſer an ſich edlen aber unkünſtleriſchen Verzerrung ver¬
fallen. Conſuelo als Zingara und ihr Mann als Trisme¬
giſtus werden endlich zu den reinen Menſchen, zu den
Menſchen als ſolchen
. Trismegiſtus rief: „Bin ich nicht
der Menſch? Warum ſoll ich nicht ſagen, was die menſch¬
liche Natur verlangt und alſo auch verwirklicht? Ja, ich
bin der Menſch, alſo kann ich ſagen, was der Menſch
will und was er wirken wird. Wer die Wolke aufſteigen
ſieht, kann den Blitz und den Orkan vorausſagen. Ich
weiß, was ich in meinem Herzen trage und was daraus
hrrvorgehen wird. Ich bin der Menſch und ſtehe in Be¬
zug mit der Menſchheit meiner Zeit. Ich habe Europa
geſehen“ u. ſ. w. Pure, proſaiſche Abſtraction! Solche
Werke können nobel, können ſchön ſein, allein ihr Adel wie
ihre Schönheit ſind auf einem Abwege der Verzerrung ins

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[407/0429] Hermaphrodit mit weiblichem Kopfputz, mit Ohrgehängen, mit buſenhafter Bruſtanſchwellung und breiten Hüftformen, liegt in einer Landſchaft auf ſchwellende Kiſſen hingeſtreckt. Ein Satyr, durch den Anſchein von Weiblichkeit getäuſcht, hat von ihm eine Decke weggezogen. Lüſtern blickt der Her¬ maphrodit nach ihm hin, aber der Satyr, der nicht, wie er erwartet, eine Nymphe gefunden, fliehet entſetzt, wagt nicht ſich umzuſchauen und ſtreckt abwehrend die Hände zurück. Die Kunſt darf nicht von der Individualiſirung laſſen, will ſie nicht die wahre Poeſie aufgeben. Sie ſoll das Weſen, aber ſie ſoll es als concrete Erſcheinung darſtellen. Das Allgemeine als Allgemeines iſt Sache der Wiſſenſchaft, nicht der Kunſt. Dieſe muß ſich daher vor ſolchen Verallgemei¬ nerungen hüten, welche die Individualität abſorbiren. In der Fortſetzung der Conſuelo, in der Gräfin von Rudol¬ ſtadt, namentlich aber im Epiloge, iſt die G. Sand z. B. dieſer an ſich edlen aber unkünſtleriſchen Verzerrung ver¬ fallen. Conſuelo als Zingara und ihr Mann als Trisme¬ giſtus werden endlich zu den reinen Menſchen, zu den Menſchen als ſolchen. Trismegiſtus rief: „Bin ich nicht der Menſch? Warum ſoll ich nicht ſagen, was die menſch¬ liche Natur verlangt und alſo auch verwirklicht? Ja, ich bin der Menſch, alſo kann ich ſagen, was der Menſch will und was er wirken wird. Wer die Wolke aufſteigen ſieht, kann den Blitz und den Orkan vorausſagen. Ich weiß, was ich in meinem Herzen trage und was daraus hrrvorgehen wird. Ich bin der Menſch und ſtehe in Be¬ zug mit der Menſchheit meiner Zeit. Ich habe Europa geſehen“ u. ſ. w. Pure, proſaiſche Abſtraction! Solche Werke können nobel, können ſchön ſein, allein ihr Adel wie ihre Schönheit ſind auf einem Abwege der Verzerrung ins

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/429>, abgerufen am 22.11.2024.