Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

durchaus unästhetisch? Wer dies behaupten wollte, müßte
von der Kunst nur moralische Exhibitionen verlangen, müßte
von ihr gar nicht fordern, daß sie das Bild der Welt in
ihren Schöpfungen so abspiegele, daß wir durch den Kampf
der Erscheinungen hindurch auf den sich ewig gleichen Grund
der schlechthin affirmativen Idee blicken. Es ist richtig, daß
das Böse uns leer läßt, daß es uns von sich zurückstößt;
es ist richtig, daß die Sophistik der Leidenschaft die innere
Hohlheit des Schlechten nicht verdecken kann. Aber die
Darstellung des Schlechten, die jenes Urtheil als ein Re¬
sultat
in uns werden läßt, kann sie nicht ästhetisch
interessant sein? Ist der formale Geist, den das Böse
heuchlerisch entwickelt, ist die formale Energie, mit welcher
es seine Zwecke verfolgt, ist die tyrannische Größe, mit der
es rücksichtslos Verbrechen auf Verbrechen häuft, ist das
Alles ästhetisch unbrauchbar? Wie kommt es, daß die ganze
dramatische Kunst des Mittelalters sich an diesem "prosai¬
schen" Element hat groß ziehen können? Wie kommt es,
daß auch Englands classische Bühne von den Mysterien zu
den Moralplays und von diesen zum eigentlichen Lust- und
Trauerspiel nur an der Metamorphose des Teufels und
seines Schalcksnarren (the Vice) hat übergehen können?
Doch ermäßigen wir unsere Fragen, da vielleicht im Fol¬
genden Aufschluß erfolgt. Hegel fährt fort: "Eben so sind
zwar die Furien des Hasses und so viele spätere Allegorien
ähnlicher Art wohl Mächte, aber ohne affirmative Selbst¬
ständigkeit und Halt, und für die ideale Darstellung un¬
günstig, obschon auch in dieser Beziehung für die besondern
Künste, und die Art und Weise, in welcher sie ihren Gegen¬
stand vor die Anschauung bringen oder nicht, ein großer
Unterschied des Erlaubten und Verbotenen festzustellen ist".

durchaus unäſthetiſch? Wer dies behaupten wollte, müßte
von der Kunſt nur moraliſche Exhibitionen verlangen, müßte
von ihr gar nicht fordern, daß ſie das Bild der Welt in
ihren Schöpfungen ſo abſpiegele, daß wir durch den Kampf
der Erſcheinungen hindurch auf den ſich ewig gleichen Grund
der ſchlechthin affirmativen Idee blicken. Es iſt richtig, daß
das Böſe uns leer läßt, daß es uns von ſich zurückſtößt;
es iſt richtig, daß die Sophiſtik der Leidenſchaft die innere
Hohlheit des Schlechten nicht verdecken kann. Aber die
Darſtellung des Schlechten, die jenes Urtheil als ein Re¬
ſultat
in uns werden läßt, kann ſie nicht äſthetiſch
intereſſant ſein? Iſt der formale Geiſt, den das Böſe
heuchleriſch entwickelt, iſt die formale Energie, mit welcher
es ſeine Zwecke verfolgt, iſt die tyranniſche Größe, mit der
es rückſichtslos Verbrechen auf Verbrechen häuft, iſt das
Alles äſthetiſch unbrauchbar? Wie kommt es, daß die ganze
dramatiſche Kunſt des Mittelalters ſich an dieſem „proſai¬
ſchen“ Element hat groß ziehen können? Wie kommt es,
daß auch Englands claſſiſche Bühne von den Myſterien zu
den Moralplays und von dieſen zum eigentlichen Luſt- und
Trauerſpiel nur an der Metamorphoſe des Teufels und
ſeines Schalcksnarren (the Vice) hat übergehen können?
Doch ermäßigen wir unſere Fragen, da vielleicht im Fol¬
genden Aufſchluß erfolgt. Hegel fährt fort: „Eben ſo ſind
zwar die Furien des Haſſes und ſo viele ſpätere Allegorien
ähnlicher Art wohl Mächte, aber ohne affirmative Selbſt¬
ſtändigkeit und Halt, und für die ideale Darſtellung un¬
günſtig, obſchon auch in dieſer Beziehung für die beſondern
Künſte, und die Art und Weiſe, in welcher ſie ihren Gegen¬
ſtand vor die Anſchauung bringen oder nicht, ein großer
Unterſchied des Erlaubten und Verbotenen feſtzuſtellen iſt“.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0381" n="359"/>
durchaus unä&#x017F;theti&#x017F;ch? Wer dies behaupten wollte, müßte<lb/>
von der Kun&#x017F;t nur morali&#x017F;che Exhibitionen verlangen, müßte<lb/>
von ihr gar nicht fordern, daß &#x017F;ie das Bild der Welt in<lb/>
ihren Schöpfungen &#x017F;o ab&#x017F;piegele, daß wir durch den Kampf<lb/>
der Er&#x017F;cheinungen hindurch auf den &#x017F;ich ewig gleichen Grund<lb/>
der &#x017F;chlechthin affirmativen Idee blicken. Es i&#x017F;t richtig, daß<lb/>
das Bö&#x017F;e uns leer läßt, daß es uns von &#x017F;ich zurück&#x017F;tößt;<lb/>
es i&#x017F;t richtig, daß die Sophi&#x017F;tik der Leiden&#x017F;chaft die innere<lb/>
Hohlheit des Schlechten nicht verdecken kann. Aber die<lb/>
Dar&#x017F;tellung des Schlechten, die jenes Urtheil als ein <hi rendition="#g">Re¬<lb/>
&#x017F;ultat</hi> in uns <hi rendition="#g">werden</hi> läßt, kann &#x017F;ie nicht ä&#x017F;theti&#x017F;ch<lb/>
intere&#x017F;&#x017F;ant &#x017F;ein? I&#x017F;t der formale Gei&#x017F;t, den das Bö&#x017F;e<lb/>
heuchleri&#x017F;ch entwickelt, i&#x017F;t die formale Energie, mit welcher<lb/>
es &#x017F;eine Zwecke verfolgt, i&#x017F;t die tyranni&#x017F;che Größe, mit der<lb/>
es rück&#x017F;ichtslos Verbrechen auf Verbrechen häuft, i&#x017F;t das<lb/>
Alles ä&#x017F;theti&#x017F;ch unbrauchbar? Wie kommt es, daß die ganze<lb/>
dramati&#x017F;che Kun&#x017F;t des Mittelalters &#x017F;ich an die&#x017F;em &#x201E;pro&#x017F;ai¬<lb/>
&#x017F;chen&#x201C; Element hat groß ziehen können? Wie kommt es,<lb/>
daß auch Englands cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Bühne von den My&#x017F;terien zu<lb/>
den Moralplays und von die&#x017F;en zum eigentlichen Lu&#x017F;t- und<lb/>
Trauer&#x017F;piel nur an der Metamorpho&#x017F;e des Teufels und<lb/>
&#x017F;eines Schalcksnarren (<hi rendition="#aq">the Vice</hi>) hat übergehen können?<lb/>
Doch ermäßigen wir un&#x017F;ere Fragen, da vielleicht im Fol¬<lb/>
genden Auf&#x017F;chluß erfolgt. Hegel fährt fort: &#x201E;Eben &#x017F;o &#x017F;ind<lb/>
zwar die Furien des Ha&#x017F;&#x017F;es und &#x017F;o viele &#x017F;pätere Allegorien<lb/>
ähnlicher Art wohl Mächte, aber ohne affirmative Selb&#x017F;<lb/>
&#x017F;tändigkeit und Halt, und für die ideale Dar&#x017F;tellung un¬<lb/>
gün&#x017F;tig, ob&#x017F;chon auch in die&#x017F;er Beziehung für die be&#x017F;ondern<lb/>
Kün&#x017F;te, und die Art und Wei&#x017F;e, in welcher &#x017F;ie ihren Gegen¬<lb/>
&#x017F;tand vor die An&#x017F;chauung bringen oder nicht, ein großer<lb/>
Unter&#x017F;chied des Erlaubten und Verbotenen fe&#x017F;tzu&#x017F;tellen i&#x017F;t&#x201C;.</p><lb/>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[359/0381] durchaus unäſthetiſch? Wer dies behaupten wollte, müßte von der Kunſt nur moraliſche Exhibitionen verlangen, müßte von ihr gar nicht fordern, daß ſie das Bild der Welt in ihren Schöpfungen ſo abſpiegele, daß wir durch den Kampf der Erſcheinungen hindurch auf den ſich ewig gleichen Grund der ſchlechthin affirmativen Idee blicken. Es iſt richtig, daß das Böſe uns leer läßt, daß es uns von ſich zurückſtößt; es iſt richtig, daß die Sophiſtik der Leidenſchaft die innere Hohlheit des Schlechten nicht verdecken kann. Aber die Darſtellung des Schlechten, die jenes Urtheil als ein Re¬ ſultat in uns werden läßt, kann ſie nicht äſthetiſch intereſſant ſein? Iſt der formale Geiſt, den das Böſe heuchleriſch entwickelt, iſt die formale Energie, mit welcher es ſeine Zwecke verfolgt, iſt die tyranniſche Größe, mit der es rückſichtslos Verbrechen auf Verbrechen häuft, iſt das Alles äſthetiſch unbrauchbar? Wie kommt es, daß die ganze dramatiſche Kunſt des Mittelalters ſich an dieſem „proſai¬ ſchen“ Element hat groß ziehen können? Wie kommt es, daß auch Englands claſſiſche Bühne von den Myſterien zu den Moralplays und von dieſen zum eigentlichen Luſt- und Trauerſpiel nur an der Metamorphoſe des Teufels und ſeines Schalcksnarren (the Vice) hat übergehen können? Doch ermäßigen wir unſere Fragen, da vielleicht im Fol¬ genden Aufſchluß erfolgt. Hegel fährt fort: „Eben ſo ſind zwar die Furien des Haſſes und ſo viele ſpätere Allegorien ähnlicher Art wohl Mächte, aber ohne affirmative Selbſt¬ ſtändigkeit und Halt, und für die ideale Darſtellung un¬ günſtig, obſchon auch in dieſer Beziehung für die beſondern Künſte, und die Art und Weiſe, in welcher ſie ihren Gegen¬ ſtand vor die Anſchauung bringen oder nicht, ein großer Unterſchied des Erlaubten und Verbotenen feſtzuſtellen iſt“.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/381
Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/381>, abgerufen am 15.05.2024.