Das Erhabene strebt in die Unendlichkeit hinaus, während das Gefällige sich in die Schranken der Endlichkeit hinein¬ schmiegt. Das erstere ist groß, gewaltig, majestätisch; das letztere niedlich, spielend, reizend. Der negative Gegensatz des Erhabenen, das Gemeine, stellt dem Großen das Klein¬ liche, dem Gewaltigen das Schwächliche, dem Majestätischen das Niedrige entgegen. Der negative Gegensatz des gefällig Schönen ist das Widrige, denn es stellt dem Niedlichen das Plumpe, dem Spielenden das Leere und Todte, dem Reizenden das Scheußliche entgegen. Das gefällig Schöne ladet uns zu seinem Genuß ein, indem es uns von vorn herein ent¬ gegenkommt und alle sinnlich angenehmen Seiten, uns zu fesseln, nicht ohne Absichtlichkeit hervorkehrt. Die Unnah¬ barkeit des Erhabenen reißt uns über die gemeinen Schranken hinaus und erfüllt uns mit Bewunderung und Ehrfurcht. Der Reiz des Gefälligen lockt uns zu sich hin, es zu ge¬ nießen, und schmeichelt uns in allen unsern Sinnen. Das Widrige dagegen stößt uns von sich ab, weil es uns durch seine Plumpheit Mißfallen, durch seine Todtheit Grauen, durch seine Scheußlichkeit Ekel erweckt. Ein Mangel an Einheit der Form, an symmetrischer Gliederung, an harmo¬ nischer Eurythmie, ist häßlich, aber noch nicht widrig. Eine Statue z. B. kann verstümmelt und dann restaurirt worden sein. Ist diese Restauration nicht glücklich, bringt sie einen fremden Zug in die Gestalt, verhält sich das Maaß ihrer Theile nicht vollkommen proportional zum ursprünglichen Kunstwerk, scheiden sich die restaurirten Theile zu grell von den Originalresten, so wird eine solche Dualität nicht schön sein, allein sie kann noch weithin haben, widrig zu sein. Dies würde sie erst werden, wenn die Restauration die ur¬ sprüngliche Idee geradezu aufhöbe. Eine Gestalt kann auch
Das Erhabene ſtrebt in die Unendlichkeit hinaus, während das Gefällige ſich in die Schranken der Endlichkeit hinein¬ ſchmiegt. Das erſtere iſt groß, gewaltig, majeſtätiſch; das letztere niedlich, ſpielend, reizend. Der negative Gegenſatz des Erhabenen, das Gemeine, ſtellt dem Großen das Klein¬ liche, dem Gewaltigen das Schwächliche, dem Majeſtätiſchen das Niedrige entgegen. Der negative Gegenſatz des gefällig Schönen iſt das Widrige, denn es ſtellt dem Niedlichen das Plumpe, dem Spielenden das Leere und Todte, dem Reizenden das Scheußliche entgegen. Das gefällig Schöne ladet uns zu ſeinem Genuß ein, indem es uns von vorn herein ent¬ gegenkommt und alle ſinnlich angenehmen Seiten, uns zu feſſeln, nicht ohne Abſichtlichkeit hervorkehrt. Die Unnah¬ barkeit des Erhabenen reißt uns über die gemeinen Schranken hinaus und erfüllt uns mit Bewunderung und Ehrfurcht. Der Reiz des Gefälligen lockt uns zu ſich hin, es zu ge¬ nießen, und ſchmeichelt uns in allen unſern Sinnen. Das Widrige dagegen ſtößt uns von ſich ab, weil es uns durch ſeine Plumpheit Mißfallen, durch ſeine Todtheit Grauen, durch ſeine Scheußlichkeit Ekel erweckt. Ein Mangel an Einheit der Form, an ſymmetriſcher Gliederung, an harmo¬ niſcher Eurythmie, iſt häßlich, aber noch nicht widrig. Eine Statue z. B. kann verſtümmelt und dann reſtaurirt worden ſein. Iſt dieſe Reſtauration nicht glücklich, bringt ſie einen fremden Zug in die Geſtalt, verhält ſich das Maaß ihrer Theile nicht vollkommen proportional zum urſprünglichen Kunſtwerk, ſcheiden ſich die reſtaurirten Theile zu grell von den Originalreſten, ſo wird eine ſolche Dualität nicht ſchön ſein, allein ſie kann noch weithin haben, widrig zu ſein. Dies würde ſie erſt werden, wenn die Reſtauration die ur¬ ſprüngliche Idee geradezu aufhöbe. Eine Geſtalt kann auch
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Das Erhabene ſtrebt in die Unendlichkeit hinaus, während
das Gefällige ſich in die Schranken der Endlichkeit hinein¬
ſchmiegt. Das erſtere iſt groß, gewaltig, majeſtätiſch; das
letztere niedlich, ſpielend, reizend. Der negative Gegenſatz
des Erhabenen, das Gemeine, ſtellt dem Großen das Klein¬
liche, dem Gewaltigen das Schwächliche, dem Majeſtätiſchen
das Niedrige entgegen. Der negative Gegenſatz des gefällig
Schönen iſt das Widrige, denn es ſtellt dem Niedlichen das
Plumpe, dem Spielenden das Leere und Todte, dem Reizenden
das Scheußliche entgegen. Das gefällig Schöne ladet uns
zu ſeinem Genuß ein, indem es uns von vorn herein ent¬
gegenkommt und alle ſinnlich angenehmen Seiten, uns zu
feſſeln, nicht ohne Abſichtlichkeit hervorkehrt. Die Unnah¬
barkeit des Erhabenen reißt uns über die gemeinen Schranken
hinaus und erfüllt uns mit Bewunderung und Ehrfurcht.
Der Reiz des Gefälligen lockt uns zu ſich hin, es zu ge¬
nießen, und ſchmeichelt uns in allen unſern Sinnen. Das
Widrige dagegen ſtößt uns von ſich ab, weil es uns durch
ſeine Plumpheit Mißfallen, durch ſeine Todtheit Grauen,
durch ſeine Scheußlichkeit Ekel erweckt. Ein Mangel an
Einheit der Form, an ſymmetriſcher Gliederung, an harmo¬
niſcher Eurythmie, iſt häßlich, aber noch nicht widrig. Eine
Statue z. B. kann verſtümmelt und dann reſtaurirt worden
ſein. Iſt dieſe Reſtauration nicht glücklich, bringt ſie einen
fremden Zug in die Geſtalt, verhält ſich das Maaß ihrer
Theile nicht vollkommen proportional zum urſprünglichen
Kunſtwerk, ſcheiden ſich die reſtaurirten Theile zu grell von
den Originalreſten, ſo wird eine ſolche Dualität nicht ſchön
ſein, allein ſie kann noch weithin haben, widrig zu ſein.
Dies würde ſie erſt werden, wenn die Reſtauration die ur¬
ſprüngliche Idee geradezu aufhöbe. Eine Geſtalt kann auch
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/300>, abgerufen am 22.11.2024.
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