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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Ducaten. Vor sich selbst, vor seiner Frau, seinem Sohn,
will er sich damit rechtfertigen, daß er da nur gestohlen
habe, wo er seinen Todfeind hätte morden können. Schiller
hat aber schon genugsam gezeigt, daß der Mord, weil er
mehr Kraft erfordert, ästhetisch höher steht, als der Diebstahl.
Irner würde schuldiger, und doch weniger gemein gehandelt
haben, hätte er Stralenheim ermordet. Seine Schwäche
hat ihn nur stehlen lassen und die Sophisterei, daß das Geld
im Grunde ja sein Eigenthum sei, hält vor seinem Gewissen
nicht aus. Sein Sohn Ulrich vollbringt, ohne Wissen des
Vaters, den Mord. Als Irner diese entsetzliche Entdeckung
macht, muß er vom Sohn als Vertheidigung die Doctrin
der Schwäche vernehmen, die er selbst ihn gelehrt habe:

Wer hat mir gesagt, die
Gelegenheit entschuldige manche Laster?
Die Leidenschaft sei unsere Natur? Auf
Des Glückes Güter folgten die des Himmels?
Wer wies mir seine Menschlichkeit abhängig
Nur von den Nerven? Wer nahm alle Macht mir,
Mich zu vertheidgen, zu zeigen mich
Im offnen Kampf, durch seine Schmach, die mich
Vielleicht mit Bastardschaft gar stempelt, ihn mit
Des Missethäters Brandmal? Er, der warm
Zumal und schwach ist, der zu Thaten reizt, die
Er thun will und nicht wagt. Ist es so seltsam,
Daß ich vollbringe, was du denkst?

Wie die Schwäche und Schwächlichkeit, ohne es zu
ahnen, vielmehr im Wahn, recht gut zu sein, in das Böse
übergeht, hat G. Sand meisterhaft in der Fadette gezeigt.
Fadette klärt Sylvain über sich auf, wie er schwach, senti¬
mental, tyrannisch gegen seine Umgebung, sophistisch und

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Ducaten. Vor ſich ſelbſt, vor ſeiner Frau, ſeinem Sohn,
will er ſich damit rechtfertigen, daß er da nur geſtohlen
habe, wo er ſeinen Todfeind hätte morden können. Schiller
hat aber ſchon genugſam gezeigt, daß der Mord, weil er
mehr Kraft erfordert, äſthetiſch höher ſteht, als der Diebſtahl.
Irner würde ſchuldiger, und doch weniger gemein gehandelt
haben, hätte er Stralenheim ermordet. Seine Schwäche
hat ihn nur ſtehlen laſſen und die Sophiſterei, daß das Geld
im Grunde ja ſein Eigenthum ſei, hält vor ſeinem Gewiſſen
nicht aus. Sein Sohn Ulrich vollbringt, ohne Wiſſen des
Vaters, den Mord. Als Irner dieſe entſetzliche Entdeckung
macht, muß er vom Sohn als Vertheidigung die Doctrin
der Schwäche vernehmen, die er ſelbſt ihn gelehrt habe:

Wer hat mir geſagt, die
Gelegenheit entſchuldige manche Laſter?
Die Leidenſchaft ſei unſere Natur? Auf
Des Glückes Güter folgten die des Himmels?
Wer wies mir ſeine Menſchlichkeit abhängig
Nur von den Nerven? Wer nahm alle Macht mir,
Mich zu vertheidgen, zu zeigen mich
Im offnen Kampf, durch ſeine Schmach, die mich
Vielleicht mit Baſtardſchaft gar ſtempelt, ihn mit
Des Miſſethäters Brandmal? Er, der warm
Zumal und ſchwach iſt, der zu Thaten reizt, die
Er thun will und nicht wagt. Iſt es ſo ſeltſam,
Daß ich vollbringe, was du denkſt?

Wie die Schwäche und Schwächlichkeit, ohne es zu
ahnen, vielmehr im Wahn, recht gut zu ſein, in das Böſe
übergeht, hat G. Sand meiſterhaft in der Fadette gezeigt.
Fadette klärt Sylvain über ſich auf, wie er ſchwach, ſenti¬
mental, tyranniſch gegen ſeine Umgebung, ſophiſtiſch und

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[195/0217] Ducaten. Vor ſich ſelbſt, vor ſeiner Frau, ſeinem Sohn, will er ſich damit rechtfertigen, daß er da nur geſtohlen habe, wo er ſeinen Todfeind hätte morden können. Schiller hat aber ſchon genugſam gezeigt, daß der Mord, weil er mehr Kraft erfordert, äſthetiſch höher ſteht, als der Diebſtahl. Irner würde ſchuldiger, und doch weniger gemein gehandelt haben, hätte er Stralenheim ermordet. Seine Schwäche hat ihn nur ſtehlen laſſen und die Sophiſterei, daß das Geld im Grunde ja ſein Eigenthum ſei, hält vor ſeinem Gewiſſen nicht aus. Sein Sohn Ulrich vollbringt, ohne Wiſſen des Vaters, den Mord. Als Irner dieſe entſetzliche Entdeckung macht, muß er vom Sohn als Vertheidigung die Doctrin der Schwäche vernehmen, die er ſelbſt ihn gelehrt habe: Wer hat mir geſagt, die Gelegenheit entſchuldige manche Laſter? Die Leidenſchaft ſei unſere Natur? Auf Des Glückes Güter folgten die des Himmels? Wer wies mir ſeine Menſchlichkeit abhängig Nur von den Nerven? Wer nahm alle Macht mir, Mich zu vertheidgen, zu zeigen mich Im offnen Kampf, durch ſeine Schmach, die mich Vielleicht mit Baſtardſchaft gar ſtempelt, ihn mit Des Miſſethäters Brandmal? Er, der warm Zumal und ſchwach iſt, der zu Thaten reizt, die Er thun will und nicht wagt. Iſt es ſo ſeltſam, Daß ich vollbringe, was du denkſt? Wie die Schwäche und Schwächlichkeit, ohne es zu ahnen, vielmehr im Wahn, recht gut zu ſein, in das Böſe übergeht, hat G. Sand meiſterhaft in der Fadette gezeigt. Fadette klärt Sylvain über ſich auf, wie er ſchwach, ſenti¬ mental, tyranniſch gegen ſeine Umgebung, ſophiſtiſch und 13 *

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/217>, abgerufen am 24.11.2024.