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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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In diesen Fehler verfällt die Kunst, wenn sie sich so sehr in
das Nebensächliche vertieft, daß sie dadurch von dem Wesent¬
lichen abgezogen wird. Sie räumt dann dem an sich Unter¬
geordneten eine Breite ein, die ihm in seinem Verhältniß zur
Hauptsache nicht zusteht. In der Epik soll uns z. B. zwar
auch das Local, die Kleidung, Bewaffnung u. dgl. vorgestellt
werden. Geht sie jedoch über den poetischen Zweck hinaus,
beschreibt sie uns, wie in neueren Romanen geschieht,
Pflanzen mit wissenschaftlicher Genauigkeit, wohl gar mit
Hinzufügung des Lateinischen Namens; beschreibt sie uns
Kleider mit der Sorgfalt eines Modejournals, Meubel und
Hausrath mit technischer Accuratesse, so wird eine solche
Ausführlichkeit kleinlich und damit häßlich. Selbst bessere
Schriftsteller, wie Balzac bei den Franzosen, Max Waldau
bei uns in der ersten Ausgabe seiner Romannovelle: "Nach
der Natur
", kranken öfter an diesem kleinlichen Zuge. Eben
so kann die Poesie nach der Innenseite des Geistes hin kleinlich
werden, wenn sie das Gefühl zu weitläufigen Analysen unter¬
wirft und die Vermittelungen des psychologischen Pragma¬
tismus ohne objective Berechtigung in haarspaltenden Unter¬
schieden entwickelt. Eine solche Behandlung ist ganz dazu
gemacht, selbst der Anlage nach große Gefühle in der Sub¬
tilität der Zergliederung wegzuschwemmen. Dies war der
Fehler Richardsons in seiner Clarisse und Pamela;
dies der Fehler -- man darf es ja wohl heut zu Tage sagen,
ohne anathematisirt zu werden-- der Fehler Rousseau's in
seiner Neuen Heloise. Es kann die Kleinlichkeit der
Behandlung aber auch darin liegen, daß ein an sich großer
Vorwurf von vorn herein zu klein genommen und in allen
seinen Verhältnissen gegen seinen Begriff verzwergt wird.
Das Kleine, wie oben schon bemerkt worden, eutopos khai

In dieſen Fehler verfällt die Kunſt, wenn ſie ſich ſo ſehr in
das Nebenſächliche vertieft, daß ſie dadurch von dem Weſent¬
lichen abgezogen wird. Sie räumt dann dem an ſich Unter¬
geordneten eine Breite ein, die ihm in ſeinem Verhältniß zur
Hauptſache nicht zuſteht. In der Epik ſoll uns z. B. zwar
auch das Local, die Kleidung, Bewaffnung u. dgl. vorgeſtellt
werden. Geht ſie jedoch über den poetiſchen Zweck hinaus,
beſchreibt ſie uns, wie in neueren Romanen geſchieht,
Pflanzen mit wiſſenſchaftlicher Genauigkeit, wohl gar mit
Hinzufügung des Lateiniſchen Namens; beſchreibt ſie uns
Kleider mit der Sorgfalt eines Modejournals, Meubel und
Hausrath mit techniſcher Accurateſſe, ſo wird eine ſolche
Ausführlichkeit kleinlich und damit häßlich. Selbſt beſſere
Schriftſteller, wie Balzac bei den Franzoſen, Max Waldau
bei uns in der erſten Ausgabe ſeiner Romannovelle: „Nach
der Natur
“, kranken öfter an dieſem kleinlichen Zuge. Eben
ſo kann die Poeſie nach der Innenſeite des Geiſtes hin kleinlich
werden, wenn ſie das Gefühl zu weitläufigen Analyſen unter¬
wirft und die Vermittelungen des pſychologiſchen Pragma¬
tismus ohne objective Berechtigung in haarſpaltenden Unter¬
ſchieden entwickelt. Eine ſolche Behandlung iſt ganz dazu
gemacht, ſelbſt der Anlage nach große Gefühle in der Sub¬
tilität der Zergliederung wegzuſchwemmen. Dies war der
Fehler Richardſons in ſeiner Clariſſe und Pamela;
dies der Fehler — man darf es ja wohl heut zu Tage ſagen,
ohne anathematiſirt zu werden— der Fehler Rouſſeau's in
ſeiner Neuen Heloiſe. Es kann die Kleinlichkeit der
Behandlung aber auch darin liegen, daß ein an ſich großer
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[184/0206] In dieſen Fehler verfällt die Kunſt, wenn ſie ſich ſo ſehr in das Nebenſächliche vertieft, daß ſie dadurch von dem Weſent¬ lichen abgezogen wird. Sie räumt dann dem an ſich Unter¬ geordneten eine Breite ein, die ihm in ſeinem Verhältniß zur Hauptſache nicht zuſteht. In der Epik ſoll uns z. B. zwar auch das Local, die Kleidung, Bewaffnung u. dgl. vorgeſtellt werden. Geht ſie jedoch über den poetiſchen Zweck hinaus, beſchreibt ſie uns, wie in neueren Romanen geſchieht, Pflanzen mit wiſſenſchaftlicher Genauigkeit, wohl gar mit Hinzufügung des Lateiniſchen Namens; beſchreibt ſie uns Kleider mit der Sorgfalt eines Modejournals, Meubel und Hausrath mit techniſcher Accurateſſe, ſo wird eine ſolche Ausführlichkeit kleinlich und damit häßlich. Selbſt beſſere Schriftſteller, wie Balzac bei den Franzoſen, Max Waldau bei uns in der erſten Ausgabe ſeiner Romannovelle: „Nach der Natur“, kranken öfter an dieſem kleinlichen Zuge. Eben ſo kann die Poeſie nach der Innenſeite des Geiſtes hin kleinlich werden, wenn ſie das Gefühl zu weitläufigen Analyſen unter¬ wirft und die Vermittelungen des pſychologiſchen Pragma¬ tismus ohne objective Berechtigung in haarſpaltenden Unter¬ ſchieden entwickelt. Eine ſolche Behandlung iſt ganz dazu gemacht, ſelbſt der Anlage nach große Gefühle in der Sub¬ tilität der Zergliederung wegzuſchwemmen. Dies war der Fehler Richardſons in ſeiner Clariſſe und Pamela; dies der Fehler — man darf es ja wohl heut zu Tage ſagen, ohne anathematiſirt zu werden— der Fehler Rouſſeau's in ſeiner Neuen Heloiſe. Es kann die Kleinlichkeit der Behandlung aber auch darin liegen, daß ein an ſich großer Vorwurf von vorn herein zu klein genommen und in allen ſeinen Verhältniſſen gegen ſeinen Begriff verzwergt wird. Das Kleine, wie oben ſchon bemerkt worden, ἐυτοπῶς χαὶ

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/206>, abgerufen am 01.05.2024.