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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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kehrung entsteht es. Paradox könnte man sagen: das Er¬
habene, das Gefällige, das Würdige und Anmuthige, sind
schön, aber sie können häßlich werden; allein solche para¬
doxe Fassungen sind für das richtige Verständniß sehr ge¬
fährlich, weil sie leicht unbedingt genommen werden; in
unserm Fall so, als ob das Erhabene und Gefällige nicht
schön wären, als ob die absolute Schönheit nicht alle Hä߬
lichkeit von sich ausschlösse. Weiße in seiner Aesthetik hatte
die Kühnheit, im dialektischen Verlauf seiner Entwicklung (35)
sogar zu sagen, daß das unmittelbar Schöne das Häßliche
sei. Der abstracte Verstand lohnt solche Kühnheiten, die bei
den Griechischen Philosophen gar nicht selten sind, jetzt nur
noch mit Schmähungen, weil er nicht in die Tiefe der
Dinge untertaucht, weil er nicht, wie Faust, zu den Müt¬
tern
heruntersteigt, die alles Werden in ihrem Dunkel
hegen. Das Häßliche muß, um begriffen zu werden, nicht
blos als ein Daseiendes, es muß als ein Werdendes be¬
griffen werden. Das Erhabene wird dadurch negirt, daß es,
statt der Unendlichkeit der Freiheit, die Endlichkeit der Un¬
freiheit zeigt. Nicht die Unfreiheit des Endlichen, denn diese
ist ästhetisch harmlos. Die Endlichkeit aber, die in der Un¬
freiheit liegt, wird zum Widerspruch gegen die Freiheit, deren
Wesen in sich unendlich ist. In diesem Contrast nennen wir
sie gemein. Gemeinheit hat einen Sinn nur, sofern sie
nicht sein soll, weil sie nämlich dem Wesen als einem frei
sein sollenden widerspricht. Der Begriff der Erhabenheit ist
die Bedingung des Begriffs der Gemeinheit. Wir nennen
z. B. eine Physiognomie gemein, wenn sie die Abhängigkeit
ihres Inhabers von einem Laster verräth, weil eine solche
Abhängigkeit gegen den Begriff des Menschen ist, als
welcher darüber hinaus sein sollte. -- Das Gefällige läßt

kehrung entſteht es. Paradox könnte man ſagen: das Er¬
habene, das Gefällige, das Würdige und Anmuthige, ſind
ſchön, aber ſie können häßlich werden; allein ſolche para¬
doxe Faſſungen ſind für das richtige Verſtändniß ſehr ge¬
fährlich, weil ſie leicht unbedingt genommen werden; in
unſerm Fall ſo, als ob das Erhabene und Gefällige nicht
ſchön wären, als ob die abſolute Schönheit nicht alle Hä߬
lichkeit von ſich ausſchlöſſe. Weiße in ſeiner Aeſthetik hatte
die Kühnheit, im dialektiſchen Verlauf ſeiner Entwicklung (35)
ſogar zu ſagen, daß das unmittelbar Schöne das Häßliche
ſei. Der abſtracte Verſtand lohnt ſolche Kühnheiten, die bei
den Griechiſchen Philoſophen gar nicht ſelten ſind, jetzt nur
noch mit Schmähungen, weil er nicht in die Tiefe der
Dinge untertaucht, weil er nicht, wie Fauſt, zu den Müt¬
tern
herunterſteigt, die alles Werden in ihrem Dunkel
hegen. Das Häßliche muß, um begriffen zu werden, nicht
blos als ein Daſeiendes, es muß als ein Werdendes be¬
griffen werden. Das Erhabene wird dadurch negirt, daß es,
ſtatt der Unendlichkeit der Freiheit, die Endlichkeit der Un¬
freiheit zeigt. Nicht die Unfreiheit des Endlichen, denn dieſe
iſt äſthetiſch harmlos. Die Endlichkeit aber, die in der Un¬
freiheit liegt, wird zum Widerſpruch gegen die Freiheit, deren
Weſen in ſich unendlich iſt. In dieſem Contraſt nennen wir
ſie gemein. Gemeinheit hat einen Sinn nur, ſofern ſie
nicht ſein ſoll, weil ſie nämlich dem Weſen als einem frei
ſein ſollenden widerſpricht. Der Begriff der Erhabenheit iſt
die Bedingung des Begriffs der Gemeinheit. Wir nennen
z. B. eine Phyſiognomie gemein, wenn ſie die Abhängigkeit
ihres Inhabers von einem Laſter verräth, weil eine ſolche
Abhängigkeit gegen den Begriff des Menſchen iſt, als
welcher darüber hinaus ſein ſollte. — Das Gefällige läßt

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[168/0190] kehrung entſteht es. Paradox könnte man ſagen: das Er¬ habene, das Gefällige, das Würdige und Anmuthige, ſind ſchön, aber ſie können häßlich werden; allein ſolche para¬ doxe Faſſungen ſind für das richtige Verſtändniß ſehr ge¬ fährlich, weil ſie leicht unbedingt genommen werden; in unſerm Fall ſo, als ob das Erhabene und Gefällige nicht ſchön wären, als ob die abſolute Schönheit nicht alle Hä߬ lichkeit von ſich ausſchlöſſe. Weiße in ſeiner Aeſthetik hatte die Kühnheit, im dialektiſchen Verlauf ſeiner Entwicklung (35) ſogar zu ſagen, daß das unmittelbar Schöne das Häßliche ſei. Der abſtracte Verſtand lohnt ſolche Kühnheiten, die bei den Griechiſchen Philoſophen gar nicht ſelten ſind, jetzt nur noch mit Schmähungen, weil er nicht in die Tiefe der Dinge untertaucht, weil er nicht, wie Fauſt, zu den Müt¬ tern herunterſteigt, die alles Werden in ihrem Dunkel hegen. Das Häßliche muß, um begriffen zu werden, nicht blos als ein Daſeiendes, es muß als ein Werdendes be¬ griffen werden. Das Erhabene wird dadurch negirt, daß es, ſtatt der Unendlichkeit der Freiheit, die Endlichkeit der Un¬ freiheit zeigt. Nicht die Unfreiheit des Endlichen, denn dieſe iſt äſthetiſch harmlos. Die Endlichkeit aber, die in der Un¬ freiheit liegt, wird zum Widerſpruch gegen die Freiheit, deren Weſen in ſich unendlich iſt. In dieſem Contraſt nennen wir ſie gemein. Gemeinheit hat einen Sinn nur, ſofern ſie nicht ſein ſoll, weil ſie nämlich dem Weſen als einem frei ſein ſollenden widerſpricht. Der Begriff der Erhabenheit iſt die Bedingung des Begriffs der Gemeinheit. Wir nennen z. B. eine Phyſiognomie gemein, wenn ſie die Abhängigkeit ihres Inhabers von einem Laſter verräth, weil eine ſolche Abhängigkeit gegen den Begriff des Menſchen iſt, als welcher darüber hinaus ſein ſollte. — Das Gefällige läßt

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/190>, abgerufen am 02.05.2024.