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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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erschüttert, aber doch zugleich vom siegreichen Strom der
Harmonie getragen sein will. Die wahre Disharmonie ist
ein erlösender Durchgangspunct der Einheit; die falsche
damit häßliche Disharmonie ist eine Pseudoentzweiung, ein
künstlich eingeimpfter Widerspruch. Eine solche stellt uns
also auch nicht die Erscheinung eines wahrhaften Wesens,
vielmehr eines wahrhaften Unwesens dar und wird uns
daher peinlich. In Hebbels zuvor betrachteter Maria
Magdalena
fühlen wir, so oft Clara die Bretter beschreitet,
den permanenten Widerspruch dessen, was sie factisch ist, und
dessen, was sie sein will und auch wohl sein soll. Was sie auch
Edles und Schönes sagen mag, es ist all' ihren Worten die
Spitze abgebrochen, denn immer müssen wir entgegnen: aber du
bist ja schwanger und -- hast es sein wollen! Diese Norddeutsche
Clara ist im Grunde nicht unterschieden von der Fleur de Marie
in Sue's Mysteres de Paris. Diese Goualeuse, eine geborene
Prinzessin, mit ihrer frischen Silberstimme, mit ihrer naiven
Mädchenhaftigkeit, ihrem Natursinn, ihrem engelhaften Ge¬
müth, sollte ein Ideal sein. Allein gerade je mehr ihre
Lieblichkeit sich entfaltet, um so entschiedener empfinden wir
die Disharmonie, daß dies liebe Kind uns zuerst in einem
tapis franc der Pariser Cite begegnet, daß es, obwohl die
Freundin der tapfern, reinen Rigolette, aus Mangel an
Arbeit, nachdem sie ihr Geld vertändelt, sich einer lieder¬
lichen Trägheit ergeben hat. Sie hat sich von der ogresse
mit Brantwein berauschen und zur Prostitution eingarnen
lassen. Eine geborne Prinzessin in einem repaire der Cite!
Himmelschreiend interessant, aber nichts weniger als poetisch.
Wir kommen über den Makel, der ihrer sittlichen Haltung
von hier anhaftet, nicht wieder hinaus; sie selbst auch nicht
und Sue hat wenigstens so viel Tact gehabt, sie unver¬

erſchüttert, aber doch zugleich vom ſiegreichen Strom der
Harmonie getragen ſein will. Die wahre Disharmonie iſt
ein erlöſender Durchgangspunct der Einheit; die falſche
damit häßliche Disharmonie iſt eine Pſeudoentzweiung, ein
künſtlich eingeimpfter Widerſpruch. Eine ſolche ſtellt uns
alſo auch nicht die Erſcheinung eines wahrhaften Weſens,
vielmehr eines wahrhaften Unweſens dar und wird uns
daher peinlich. In Hebbels zuvor betrachteter Maria
Magdalena
fühlen wir, ſo oft Clara die Bretter beſchreitet,
den permanenten Widerſpruch deſſen, was ſie factiſch iſt, und
deſſen, was ſie ſein will und auch wohl ſein ſoll. Was ſie auch
Edles und Schönes ſagen mag, es iſt all' ihren Worten die
Spitze abgebrochen, denn immer müſſen wir entgegnen: aber du
biſt ja ſchwanger und — haſt es ſein wollen! Dieſe Norddeutſche
Clara iſt im Grunde nicht unterſchieden von der Fleur de Marie
in Sue's Mystères de Paris. Dieſe Goualeuſe, eine geborene
Prinzeſſin, mit ihrer friſchen Silberſtimme, mit ihrer naiven
Mädchenhaftigkeit, ihrem Naturſinn, ihrem engelhaften Ge¬
müth, ſollte ein Ideal ſein. Allein gerade je mehr ihre
Lieblichkeit ſich entfaltet, um ſo entſchiedener empfinden wir
die Disharmonie, daß dies liebe Kind uns zuerſt in einem
tapis franc der Pariſer Cité begegnet, daß es, obwohl die
Freundin der tapfern, reinen Rigolette, aus Mangel an
Arbeit, nachdem ſie ihr Geld vertändelt, ſich einer lieder¬
lichen Trägheit ergeben hat. Sie hat ſich von der ogresse
mit Brantwein berauſchen und zur Proſtitution eingarnen
laſſen. Eine geborne Prinzeſſin in einem repaire der Cité!
Himmelſchreiend intereſſant, aber nichts weniger als poetiſch.
Wir kommen über den Makel, der ihrer ſittlichen Haltung
von hier anhaftet, nicht wieder hinaus; ſie ſelbſt auch nicht
und Sue hat wenigſtens ſo viel Tact gehabt, ſie unver¬

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[106/0128] erſchüttert, aber doch zugleich vom ſiegreichen Strom der Harmonie getragen ſein will. Die wahre Disharmonie iſt ein erlöſender Durchgangspunct der Einheit; die falſche damit häßliche Disharmonie iſt eine Pſeudoentzweiung, ein künſtlich eingeimpfter Widerſpruch. Eine ſolche ſtellt uns alſo auch nicht die Erſcheinung eines wahrhaften Weſens, vielmehr eines wahrhaften Unweſens dar und wird uns daher peinlich. In Hebbels zuvor betrachteter Maria Magdalena fühlen wir, ſo oft Clara die Bretter beſchreitet, den permanenten Widerſpruch deſſen, was ſie factiſch iſt, und deſſen, was ſie ſein will und auch wohl ſein ſoll. Was ſie auch Edles und Schönes ſagen mag, es iſt all' ihren Worten die Spitze abgebrochen, denn immer müſſen wir entgegnen: aber du biſt ja ſchwanger und — haſt es ſein wollen! Dieſe Norddeutſche Clara iſt im Grunde nicht unterſchieden von der Fleur de Marie in Sue's Mystères de Paris. Dieſe Goualeuſe, eine geborene Prinzeſſin, mit ihrer friſchen Silberſtimme, mit ihrer naiven Mädchenhaftigkeit, ihrem Naturſinn, ihrem engelhaften Ge¬ müth, ſollte ein Ideal ſein. Allein gerade je mehr ihre Lieblichkeit ſich entfaltet, um ſo entſchiedener empfinden wir die Disharmonie, daß dies liebe Kind uns zuerſt in einem tapis franc der Pariſer Cité begegnet, daß es, obwohl die Freundin der tapfern, reinen Rigolette, aus Mangel an Arbeit, nachdem ſie ihr Geld vertändelt, ſich einer lieder¬ lichen Trägheit ergeben hat. Sie hat ſich von der ogresse mit Brantwein berauſchen und zur Proſtitution eingarnen laſſen. Eine geborne Prinzeſſin in einem repaire der Cité! Himmelſchreiend intereſſant, aber nichts weniger als poetiſch. Wir kommen über den Makel, der ihrer ſittlichen Haltung von hier anhaftet, nicht wieder hinaus; ſie ſelbſt auch nicht und Sue hat wenigſtens ſo viel Tact gehabt, ſie unver¬

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/128>, abgerufen am 27.11.2024.