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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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der Leidenschaft sich ihm ergeben hat und im Herzen einen An¬
dern liebt, höhnisch ab. Ihr früherer Geliebter, ein promo¬
virter Doctor, duellirt sich darüber mit dem Schreiber und
sie schießen sich gegenseitig todt. Der alte Anton, der mit
Catonischen Stachelreden sehr freigebig ist, muß doch der
Sittenstrenge der Tochter nicht getrauet haben. Er hat die
Drohung ausgestoßen, daß, falls sie ihm einmal Schande
machte, er sich den Hals abschneiden würde. Die Tochter,
ihres Elends gewiß, stürzt sich daher aus Liebe zum Vater
in einen Brunnen. Dieser schneidet sich mit dem Rasirmesser
nicht, wie die Erwartung zu einem Cato des bürgerlichen
Trauerspiels gemacht war, den Hals ab, fällt auch nicht in
Wahnsinn -- dazu ist er viel zu verständig, -- sondern
schließt das Stück mit der sarkastisch inhaltslosen Phrase:

"Ich verstehe die Welt nicht mehr."

Dies Drama ist ein wahrer Rattenkönig von falschen
Contrasten. Sohn und Mutter, Sohn und Vater, Tochter
und Vater, Liebhaber und Geliebte, Alles steht in falschen
Beziehungen. Da ist auch nicht Ein Verhältniß, Haustyrannei,
Diebstahl, Fall der Unschuld, Untreue, Ehrlosigkeit, Duell,
Selbstmord mit obligatem Kindermord, das nicht eine häßliche
Wendung darböte. Der Mittelpunct des Ganzen sollte Clara
sein. Allein wie können wir sie für tragisch gelten lassen,
da sie einem solchen Subject, wie dieser herzlose Leonhard
ist, sich in die Arme wirft! Wäre derselbe ein edler Mensch,
so würde ein tragischer Contrast zwischen ihm und dem Doctor
möglich sein. So aber fehlt in ihrer Beziehung auf Clara
die Einheit. Oder Clara könnte mit ihm contrastiren. Aber
wie soll sie es, da sie die wahre Liebe ihres Herzens ihm
verrathen, ja in einer frivolen Laune ihm ihre jungfräuliche
Reinheit geopfert hat. Mit welcher Sophistik sie dies Ver¬

Rosenkranz, Aesthetik des Häßlichen. 7

der Leidenſchaft ſich ihm ergeben hat und im Herzen einen An¬
dern liebt, höhniſch ab. Ihr früherer Geliebter, ein promo¬
virter Doctor, duellirt ſich darüber mit dem Schreiber und
ſie ſchießen ſich gegenſeitig todt. Der alte Anton, der mit
Catoniſchen Stachelreden ſehr freigebig iſt, muß doch der
Sittenſtrenge der Tochter nicht getrauet haben. Er hat die
Drohung ausgeſtoßen, daß, falls ſie ihm einmal Schande
machte, er ſich den Hals abſchneiden würde. Die Tochter,
ihres Elends gewiß, ſtürzt ſich daher aus Liebe zum Vater
in einen Brunnen. Dieſer ſchneidet ſich mit dem Raſirmeſſer
nicht, wie die Erwartung zu einem Cato des bürgerlichen
Trauerſpiels gemacht war, den Hals ab, fällt auch nicht in
Wahnſinn — dazu iſt er viel zu verſtändig, — ſondern
ſchließt das Stück mit der ſarkaſtiſch inhaltsloſen Phraſe:

„Ich verſtehe die Welt nicht mehr.“

Dies Drama iſt ein wahrer Rattenkönig von falſchen
Contraſten. Sohn und Mutter, Sohn und Vater, Tochter
und Vater, Liebhaber und Geliebte, Alles ſteht in falſchen
Beziehungen. Da iſt auch nicht Ein Verhältniß, Haustyrannei,
Diebſtahl, Fall der Unſchuld, Untreue, Ehrloſigkeit, Duell,
Selbſtmord mit obligatem Kindermord, das nicht eine häßliche
Wendung darböte. Der Mittelpunct des Ganzen ſollte Clara
ſein. Allein wie können wir ſie für tragiſch gelten laſſen,
da ſie einem ſolchen Subject, wie dieſer herzloſe Leonhard
iſt, ſich in die Arme wirft! Wäre derſelbe ein edler Menſch,
ſo würde ein tragiſcher Contraſt zwiſchen ihm und dem Doctor
möglich ſein. So aber fehlt in ihrer Beziehung auf Clara
die Einheit. Oder Clara könnte mit ihm contraſtiren. Aber
wie ſoll ſie es, da ſie die wahre Liebe ihres Herzens ihm
verrathen, ja in einer frivolen Laune ihm ihre jungfräuliche
Reinheit geopfert hat. Mit welcher Sophiſtik ſie dies Ver¬

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[97/0119] der Leidenſchaft ſich ihm ergeben hat und im Herzen einen An¬ dern liebt, höhniſch ab. Ihr früherer Geliebter, ein promo¬ virter Doctor, duellirt ſich darüber mit dem Schreiber und ſie ſchießen ſich gegenſeitig todt. Der alte Anton, der mit Catoniſchen Stachelreden ſehr freigebig iſt, muß doch der Sittenſtrenge der Tochter nicht getrauet haben. Er hat die Drohung ausgeſtoßen, daß, falls ſie ihm einmal Schande machte, er ſich den Hals abſchneiden würde. Die Tochter, ihres Elends gewiß, ſtürzt ſich daher aus Liebe zum Vater in einen Brunnen. Dieſer ſchneidet ſich mit dem Raſirmeſſer nicht, wie die Erwartung zu einem Cato des bürgerlichen Trauerſpiels gemacht war, den Hals ab, fällt auch nicht in Wahnſinn — dazu iſt er viel zu verſtändig, — ſondern ſchließt das Stück mit der ſarkaſtiſch inhaltsloſen Phraſe: „Ich verſtehe die Welt nicht mehr.“ Dies Drama iſt ein wahrer Rattenkönig von falſchen Contraſten. Sohn und Mutter, Sohn und Vater, Tochter und Vater, Liebhaber und Geliebte, Alles ſteht in falſchen Beziehungen. Da iſt auch nicht Ein Verhältniß, Haustyrannei, Diebſtahl, Fall der Unſchuld, Untreue, Ehrloſigkeit, Duell, Selbſtmord mit obligatem Kindermord, das nicht eine häßliche Wendung darböte. Der Mittelpunct des Ganzen ſollte Clara ſein. Allein wie können wir ſie für tragiſch gelten laſſen, da ſie einem ſolchen Subject, wie dieſer herzloſe Leonhard iſt, ſich in die Arme wirft! Wäre derſelbe ein edler Menſch, ſo würde ein tragiſcher Contraſt zwiſchen ihm und dem Doctor möglich ſein. So aber fehlt in ihrer Beziehung auf Clara die Einheit. Oder Clara könnte mit ihm contraſtiren. Aber wie ſoll ſie es, da ſie die wahre Liebe ihres Herzens ihm verrathen, ja in einer frivolen Laune ihm ihre jungfräuliche Reinheit geopfert hat. Mit welcher Sophiſtik ſie dies Ver¬ Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 7

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/119>, abgerufen am 06.05.2024.