nach symmetrisch seinsollenden Verhältniß die eine Seite desselben, so ist die Existenz der Symmetrie unvollständig. Indessen wirkt unsere Phantasie dann supplementarisch und fügt in unserer Vorstellung aus der schon vorhandenen Seite die noch fehlende hinzu, so daß diese Halbsymmetrie als eine dem Begriff nach daseiende, der Realität nach nur nicht durchgeführte auch noch erträglich bleibt. Wir empfinden dies bei vielen Gothischen Kirchen, bei denen oft nur der eine Thurm ausgebauet ist, während der andere ganz fehlt oder nur bis zu einem untern Stockwerk gelangt ist. Im Ueber¬ blick der Facade der Thurmseite ist der, mangelnde Thurm offenbar ein ästhetischer Defect, denn, nach der Anlage des Baues, sollte er da sein. Da es jedoch im Begriff des Thurms als eines auf Erhabenheit Anspruch machenden Ge¬ bäudes liegt, in einer gewissen Einzigkeit dastehn, zu können, so ertragen wir den Mangel nicht nur ziemlich leicht, sondern ergänzen ihn auch, wenn er auffallender ist, aus unserer Vorstellung. -- Ist die Symmetrie vollständig da, sind aber in ihr selbst Widersprüche enthalten, so wird unserer Phan¬ tasie der Spielraum genommen, weil wir durch etwas Positives gehemmt werden. Wir können dann nicht etwas Anderes an die Stelle des Gegebenen setzen, das Vorhandene nicht ideell und idealisch ergänzen; wir müssen uns vielmehr dem empirisch Existirenden unterwerfen und dasselbe nehmen, wie es ist. Die Gleichheit kann auf eine in sich verkehrte, allein nicht inverse Weise da sein. Nicht das symmetrische und symphonische Correlat bietet dann sich dar, sondern das correspondiren sollende Gleiche stellt sich in einer qualitativ verschiedenen Weise dar. Stellen wir uns z. B. vor, daß eine Gothische Kirche nach dem ursprünglichen Plan zwei Thürme hätte haben sollen, daß nur der eine derselben vor¬
nach ſymmetriſch ſeinſollenden Verhältniß die eine Seite deſſelben, ſo iſt die Exiſtenz der Symmetrie unvollſtändig. Indeſſen wirkt unſere Phantaſie dann ſupplementariſch und fügt in unſerer Vorſtellung aus der ſchon vorhandenen Seite die noch fehlende hinzu, ſo daß dieſe Halbſymmetrie als eine dem Begriff nach daſeiende, der Realität nach nur nicht durchgeführte auch noch erträglich bleibt. Wir empfinden dies bei vielen Gothiſchen Kirchen, bei denen oft nur der eine Thurm ausgebauet iſt, während der andere ganz fehlt oder nur bis zu einem untern Stockwerk gelangt iſt. Im Ueber¬ blick der Facade der Thurmſeite iſt der, mangelnde Thurm offenbar ein äſthetiſcher Defect, denn, nach der Anlage des Baues, ſollte er da ſein. Da es jedoch im Begriff des Thurms als eines auf Erhabenheit Anſpruch machenden Ge¬ bäudes liegt, in einer gewiſſen Einzigkeit daſtehn, zu können, ſo ertragen wir den Mangel nicht nur ziemlich leicht, ſondern ergänzen ihn auch, wenn er auffallender iſt, aus unſerer Vorſtellung. — Iſt die Symmetrie vollſtändig da, ſind aber in ihr ſelbſt Widerſprüche enthalten, ſo wird unſerer Phan¬ taſie der Spielraum genommen, weil wir durch etwas Poſitives gehemmt werden. Wir können dann nicht etwas Anderes an die Stelle des Gegebenen ſetzen, das Vorhandene nicht ideell und idealiſch ergänzen; wir müſſen uns vielmehr dem empiriſch Exiſtirenden unterwerfen und daſſelbe nehmen, wie es iſt. Die Gleichheit kann auf eine in ſich verkehrte, allein nicht inverſe Weiſe da ſein. Nicht das ſymmetriſche und ſymphoniſche Correlat bietet dann ſich dar, ſondern das correſpondiren ſollende Gleiche ſtellt ſich in einer qualitativ verſchiedenen Weiſe dar. Stellen wir uns z. B. vor, daß eine Gothiſche Kirche nach dem urſprünglichen Plan zwei Thürme hätte haben ſollen, daß nur der eine derſelben vor¬
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nach ſymmetriſch ſeinſollenden Verhältniß die eine Seite
deſſelben, ſo iſt die Exiſtenz der Symmetrie unvollſtändig.
Indeſſen wirkt unſere Phantaſie dann ſupplementariſch und
fügt in unſerer Vorſtellung aus der ſchon vorhandenen Seite
die noch fehlende hinzu, ſo daß dieſe Halbſymmetrie als
eine dem Begriff nach daſeiende, der Realität nach nur nicht
durchgeführte auch noch erträglich bleibt. Wir empfinden
dies bei vielen Gothiſchen Kirchen, bei denen oft nur der
eine Thurm ausgebauet iſt, während der andere ganz fehlt oder
nur bis zu einem untern Stockwerk gelangt iſt. Im Ueber¬
blick der Facade der Thurmſeite iſt der, mangelnde Thurm
offenbar ein äſthetiſcher Defect, denn, nach der Anlage des
Baues, ſollte er da ſein. Da es jedoch im Begriff des
Thurms als eines auf Erhabenheit Anſpruch machenden Ge¬
bäudes liegt, in einer gewiſſen Einzigkeit daſtehn, zu können,
ſo ertragen wir den Mangel nicht nur ziemlich leicht, ſondern
ergänzen ihn auch, wenn er auffallender iſt, aus unſerer
Vorſtellung. — Iſt die Symmetrie vollſtändig da, ſind aber
in ihr ſelbſt Widerſprüche enthalten, ſo wird unſerer Phan¬
taſie der Spielraum genommen, weil wir durch etwas
Poſitives gehemmt werden. Wir können dann nicht etwas
Anderes an die Stelle des Gegebenen ſetzen, das Vorhandene
nicht ideell und idealiſch ergänzen; wir müſſen uns vielmehr
dem empiriſch Exiſtirenden unterwerfen und daſſelbe nehmen,
wie es iſt. Die Gleichheit kann auf eine in ſich verkehrte,
allein nicht inverſe Weiſe da ſein. Nicht das ſymmetriſche
und ſymphoniſche Correlat bietet dann ſich dar, ſondern das
correſpondiren ſollende Gleiche ſtellt ſich in einer qualitativ
verſchiedenen Weiſe dar. Stellen wir uns z. B. vor, daß
eine Gothiſche Kirche nach dem urſprünglichen Plan zwei
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/107>, abgerufen am 23.11.2024.
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