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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875.

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"Ich will auf den hohen Berg hinaufsteigen,
den sie den grauen Zahn heißen," versetzt er, "ich
will diese Welt einmal von oben ansehen. Begleiten
Sie mich und machen Sie, daß wir noch einen
oder zwei Männer mitbekommen. Haben Sie keine
Sorge meinetwegen; mir ist besser. Gestern ist ein
böser Tag gewesen. Wie friedlos und heimatlos bin
ich durch die wüsten Gegenden gezogen, ohne Ziel.
Mir selber hätte ich entrinnen mögen, wie ich denen
da draußen entronnen bin. Der ganze Jammer
meines Elendes war über mich gekommen. Aber
diese Luft heilt mich -- oh, diese reine, heilige Luft!"

Als wir aus der Klause treten, müssen wir
die flachen Hände über die Augen halten. Es ist
ein mächtiges Leuchten. Die Aeste des Tanns sind
goldig roth und in den Schatten des Geflecht-
bodens zittern Thautropfen. Viele davon trinken
schon von den glühenden Quellen der durch das
Geäste rieselnden Sonne. Auf den Wipfeln jauch-
zen die Vogelschaaren. Eichhörnchen hüpfen herum
und lugen nach Morgenbrot und Gespielen. Eine
junge Buche wiegt ihre reisigen Blätter im milden
Hauche des Morgens.

Da lächelt Hermann.

Wir schreiten weiter. Wie lichtes Nebelgrau
schimmert es uns zwischen den finsteren Stämmen
entgegen. Ein fast kalter Lufthauch zieht. Da lichtet

„Ich will auf den hohen Berg hinaufſteigen,
den ſie den grauen Zahn heißen,“ verſetzt er, „ich
will dieſe Welt einmal von oben anſehen. Begleiten
Sie mich und machen Sie, daß wir noch einen
oder zwei Männer mitbekommen. Haben Sie keine
Sorge meinetwegen; mir iſt beſſer. Geſtern iſt ein
böſer Tag geweſen. Wie friedlos und heimatlos bin
ich durch die wüſten Gegenden gezogen, ohne Ziel.
Mir ſelber hätte ich entrinnen mögen, wie ich denen
da draußen entronnen bin. Der ganze Jammer
meines Elendes war über mich gekommen. Aber
dieſe Luft heilt mich — oh, dieſe reine, heilige Luft!“

Als wir aus der Klauſe treten, müſſen wir
die flachen Hände über die Augen halten. Es iſt
ein mächtiges Leuchten. Die Aeſte des Tanns ſind
goldig roth und in den Schatten des Geflecht-
bodens zittern Thautropfen. Viele davon trinken
ſchon von den glühenden Quellen der durch das
Geäſte rieſelnden Sonne. Auf den Wipfeln jauch-
zen die Vogelſchaaren. Eichhörnchen hüpfen herum
und lugen nach Morgenbrot und Geſpielen. Eine
junge Buche wiegt ihre reiſigen Blätter im milden
Hauche des Morgens.

Da lächelt Hermann.

Wir ſchreiten weiter. Wie lichtes Nebelgrau
ſchimmert es uns zwiſchen den finſteren Stämmen
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[402/0412] „Ich will auf den hohen Berg hinaufſteigen, den ſie den grauen Zahn heißen,“ verſetzt er, „ich will dieſe Welt einmal von oben anſehen. Begleiten Sie mich und machen Sie, daß wir noch einen oder zwei Männer mitbekommen. Haben Sie keine Sorge meinetwegen; mir iſt beſſer. Geſtern iſt ein böſer Tag geweſen. Wie friedlos und heimatlos bin ich durch die wüſten Gegenden gezogen, ohne Ziel. Mir ſelber hätte ich entrinnen mögen, wie ich denen da draußen entronnen bin. Der ganze Jammer meines Elendes war über mich gekommen. Aber dieſe Luft heilt mich — oh, dieſe reine, heilige Luft!“ Als wir aus der Klauſe treten, müſſen wir die flachen Hände über die Augen halten. Es iſt ein mächtiges Leuchten. Die Aeſte des Tanns ſind goldig roth und in den Schatten des Geflecht- bodens zittern Thautropfen. Viele davon trinken ſchon von den glühenden Quellen der durch das Geäſte rieſelnden Sonne. Auf den Wipfeln jauch- zen die Vogelſchaaren. Eichhörnchen hüpfen herum und lugen nach Morgenbrot und Geſpielen. Eine junge Buche wiegt ihre reiſigen Blätter im milden Hauche des Morgens. Da lächelt Hermann. Wir ſchreiten weiter. Wie lichtes Nebelgrau ſchimmert es uns zwiſchen den finſteren Stämmen entgegen. Ein faſt kalter Lufthauch zieht. Da lichtet

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Zitationshilfe: Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/412>, abgerufen am 24.11.2024.