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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875.

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daß sie nicht das Meer kann löschen, und wär' die
ganze Erden ein Grab, sie nicht kunnt begraben.
Ich schenke den letzten Tropfen deines Blutes den
vergessenen Seelen im Fegfeuer, auf daß sie einen
Tag haben im Jahr, an dem sie von dem Feuer
befreit sind."

Und so sei -- nach der Sage Deutung --
der Allerseelentag entstanden. An diesem Tage sind
auch die verlassensten und vergessensten Seelen von
ihrer Pein befreit und stehen im Vorhofe des
Himmels, bis der letzte Stundenschlag des Tages
sie wieder in die Flammen ruft.

Das ist im Walde der Sinn und Gedanke
des Festes Allerseelen, und manche gute That wird
geübt auf die Meinung, den abgeschiedenen Seelen
die Feuerspein zu lindern.

Ueber den einsamen Gräbern aber brauen die
Spätherbstnebel, und junger Schnee verbirgt des
Hügels letzten Rest, und darauf haben etwa die
Klauen eines Hähers ein Kettchen gezogen -- als
einziges Zeichen des Lebens, das hier oben noch
waltet -- des unauflöslichen Bandes Deutung:
Um Leben und Tod ist eine ewige Kette gewunden.

In den Winkelwäldern gibt es nur ein ein-
ziges Grab, von dem die Leute wissen. Aber sie
verachten es und sie fliehen es. Und dennoch ist es an
diesem Tage des Gedächtnisses nicht einsam gewesen.


daß ſie nicht das Meer kann löſchen, und wär’ die
ganze Erden ein Grab, ſie nicht kunnt begraben.
Ich ſchenke den letzten Tropfen deines Blutes den
vergeſſenen Seelen im Fegfeuer, auf daß ſie einen
Tag haben im Jahr, an dem ſie von dem Feuer
befreit ſind.“

Und ſo ſei — nach der Sage Deutung —
der Allerſeelentag entſtanden. An dieſem Tage ſind
auch die verlaſſenſten und vergeſſenſten Seelen von
ihrer Pein befreit und ſtehen im Vorhofe des
Himmels, bis der letzte Stundenſchlag des Tages
ſie wieder in die Flammen ruft.

Das iſt im Walde der Sinn und Gedanke
des Feſtes Allerſeelen, und manche gute That wird
geübt auf die Meinung, den abgeſchiedenen Seelen
die Feuerspein zu lindern.

Ueber den einſamen Gräbern aber brauen die
Spätherbſtnebel, und junger Schnee verbirgt des
Hügels letzten Reſt, und darauf haben etwa die
Klauen eines Hähers ein Kettchen gezogen — als
einziges Zeichen des Lebens, das hier oben noch
waltet — des unauflöslichen Bandes Deutung:
Um Leben und Tod iſt eine ewige Kette gewunden.

In den Winkelwäldern gibt es nur ein ein-
ziges Grab, von dem die Leute wiſſen. Aber ſie
verachten es und ſie fliehen es. Und dennoch iſt es an
dieſem Tage des Gedächtniſſes nicht einſam geweſen.


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[208/0218] daß ſie nicht das Meer kann löſchen, und wär’ die ganze Erden ein Grab, ſie nicht kunnt begraben. Ich ſchenke den letzten Tropfen deines Blutes den vergeſſenen Seelen im Fegfeuer, auf daß ſie einen Tag haben im Jahr, an dem ſie von dem Feuer befreit ſind.“ Und ſo ſei — nach der Sage Deutung — der Allerſeelentag entſtanden. An dieſem Tage ſind auch die verlaſſenſten und vergeſſenſten Seelen von ihrer Pein befreit und ſtehen im Vorhofe des Himmels, bis der letzte Stundenſchlag des Tages ſie wieder in die Flammen ruft. Das iſt im Walde der Sinn und Gedanke des Feſtes Allerſeelen, und manche gute That wird geübt auf die Meinung, den abgeſchiedenen Seelen die Feuerspein zu lindern. Ueber den einſamen Gräbern aber brauen die Spätherbſtnebel, und junger Schnee verbirgt des Hügels letzten Reſt, und darauf haben etwa die Klauen eines Hähers ein Kettchen gezogen — als einziges Zeichen des Lebens, das hier oben noch waltet — des unauflöslichen Bandes Deutung: Um Leben und Tod iſt eine ewige Kette gewunden. In den Winkelwäldern gibt es nur ein ein- ziges Grab, von dem die Leute wiſſen. Aber ſie verachten es und ſie fliehen es. Und dennoch iſt es an dieſem Tage des Gedächtniſſes nicht einſam geweſen.

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Zitationshilfe: Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/218>, abgerufen am 23.11.2024.