Roquette, Otto: Die Schlangenkönigin. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 221–335. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Waarenlager, ebenso das ganze speicherartige Hinterhaus. In dem obern Stockwerke hatte die Familie Platz, sich auszubreiten. Leider aber sollte die Familie sehr klein bleiben. Meiner Mutter erinnere ich mich nicht mehr, sie starb vor meinem zweiten Jahre. Dagegen knüpfen sich meine liebevollsten Kindheitserinnerungen an ein anderes weibliches Wesen. Ich hatte eine wendische Amme aus dem Spreewalde. Es war eine junge Frau, die ihren Mann noch vor der Geburt ihres ersten Kindes verloren und wieder in Dienste hatte gehn müssen. Da sie sich in dem verödeten Hause sehr anstellig und brauchbar zeigte und ich mich an die treue Kascha wie an eine Mutter gewöhnt hatte, behielt mein Vater sie im Hause und überließ ihr die Wirthschaft mit der Zeit fast ganz. Sie sorgte für mich mit Liebe und Aufopferung und hegte und pflegte mich, denn ich war ein schwächliches Kind. Oft erzählte sie mir mit Sehnsucht von ihrem Knaben, so daß in mir die gleiche Regung erwachte und ich dem Vater anlag, den kleinen Franz aus dem Spreewalde kommen zu lassen. Da ihm meine Vereinsamung längst schmerzlich gewesen sein mochte, so ging er darauf ein und nahm den Knaben in sein Haus auf. Ich hatte nun einen Spielkameraden und entwickelte mich an und mit ihm schneller. Anfangs zwar sprach er fast nur wendisch, aber bald lernte er das Deutsche geläufig, zumal da seine Mutter es sprach, während ich andererseits durch diesen Verkehr der Waarenlager, ebenso das ganze speicherartige Hinterhaus. In dem obern Stockwerke hatte die Familie Platz, sich auszubreiten. Leider aber sollte die Familie sehr klein bleiben. Meiner Mutter erinnere ich mich nicht mehr, sie starb vor meinem zweiten Jahre. Dagegen knüpfen sich meine liebevollsten Kindheitserinnerungen an ein anderes weibliches Wesen. Ich hatte eine wendische Amme aus dem Spreewalde. Es war eine junge Frau, die ihren Mann noch vor der Geburt ihres ersten Kindes verloren und wieder in Dienste hatte gehn müssen. Da sie sich in dem verödeten Hause sehr anstellig und brauchbar zeigte und ich mich an die treue Kascha wie an eine Mutter gewöhnt hatte, behielt mein Vater sie im Hause und überließ ihr die Wirthschaft mit der Zeit fast ganz. Sie sorgte für mich mit Liebe und Aufopferung und hegte und pflegte mich, denn ich war ein schwächliches Kind. Oft erzählte sie mir mit Sehnsucht von ihrem Knaben, so daß in mir die gleiche Regung erwachte und ich dem Vater anlag, den kleinen Franz aus dem Spreewalde kommen zu lassen. Da ihm meine Vereinsamung längst schmerzlich gewesen sein mochte, so ging er darauf ein und nahm den Knaben in sein Haus auf. Ich hatte nun einen Spielkameraden und entwickelte mich an und mit ihm schneller. Anfangs zwar sprach er fast nur wendisch, aber bald lernte er das Deutsche geläufig, zumal da seine Mutter es sprach, während ich andererseits durch diesen Verkehr der <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0009"/> Waarenlager, ebenso das ganze speicherartige Hinterhaus. In dem obern Stockwerke hatte die Familie Platz, sich auszubreiten. Leider aber sollte die Familie sehr klein bleiben. Meiner Mutter erinnere ich mich nicht mehr, sie starb vor meinem zweiten Jahre. Dagegen knüpfen sich meine liebevollsten Kindheitserinnerungen an ein anderes weibliches Wesen. Ich hatte eine wendische Amme aus dem Spreewalde. Es war eine junge Frau, die ihren Mann noch vor der Geburt ihres ersten Kindes verloren und wieder in Dienste hatte gehn müssen. Da sie sich in dem verödeten Hause sehr anstellig und brauchbar zeigte und ich mich an die treue Kascha wie an eine Mutter gewöhnt hatte, behielt mein Vater sie im Hause und überließ ihr die Wirthschaft mit der Zeit fast ganz. Sie sorgte für mich mit Liebe und Aufopferung und hegte und pflegte mich, denn ich war ein schwächliches Kind. Oft erzählte sie mir mit Sehnsucht von ihrem Knaben, so daß in mir die gleiche Regung erwachte und ich dem Vater anlag, den kleinen Franz aus dem Spreewalde kommen zu lassen. Da ihm meine Vereinsamung längst schmerzlich gewesen sein mochte, so ging er darauf ein und nahm den Knaben in sein Haus auf.</p><lb/> <p>Ich hatte nun einen Spielkameraden und entwickelte mich an und mit ihm schneller. Anfangs zwar sprach er fast nur wendisch, aber bald lernte er das Deutsche geläufig, zumal da seine Mutter es sprach, während ich andererseits durch diesen Verkehr der<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0009]
Waarenlager, ebenso das ganze speicherartige Hinterhaus. In dem obern Stockwerke hatte die Familie Platz, sich auszubreiten. Leider aber sollte die Familie sehr klein bleiben. Meiner Mutter erinnere ich mich nicht mehr, sie starb vor meinem zweiten Jahre. Dagegen knüpfen sich meine liebevollsten Kindheitserinnerungen an ein anderes weibliches Wesen. Ich hatte eine wendische Amme aus dem Spreewalde. Es war eine junge Frau, die ihren Mann noch vor der Geburt ihres ersten Kindes verloren und wieder in Dienste hatte gehn müssen. Da sie sich in dem verödeten Hause sehr anstellig und brauchbar zeigte und ich mich an die treue Kascha wie an eine Mutter gewöhnt hatte, behielt mein Vater sie im Hause und überließ ihr die Wirthschaft mit der Zeit fast ganz. Sie sorgte für mich mit Liebe und Aufopferung und hegte und pflegte mich, denn ich war ein schwächliches Kind. Oft erzählte sie mir mit Sehnsucht von ihrem Knaben, so daß in mir die gleiche Regung erwachte und ich dem Vater anlag, den kleinen Franz aus dem Spreewalde kommen zu lassen. Da ihm meine Vereinsamung längst schmerzlich gewesen sein mochte, so ging er darauf ein und nahm den Knaben in sein Haus auf.
Ich hatte nun einen Spielkameraden und entwickelte mich an und mit ihm schneller. Anfangs zwar sprach er fast nur wendisch, aber bald lernte er das Deutsche geläufig, zumal da seine Mutter es sprach, während ich andererseits durch diesen Verkehr der
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