Roquette, Otto: Die Schlangenkönigin. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 221–335. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.In dem Hauptkahn saß eine Frau, den Täufling auf den Knieen, umgeben von den Pathen. Plötzlich fuhr Victor auf mit den Worten: Da ist sie, da! -- Ehe ich noch der Richtung seiner Augen folgte, ließ ich meine Blicke zufällig über unsern Führer streifen. Ich bemerkte in Sardok's Zügen eine Verzerrung der Wuth, die mich mit Schreck erfüllte, und sah, wie er darauf das Mädchen, auf welches Victor wies, mit den Augen zu verzehren schien. Auch ich erkannte in ihr die Schlangenkönigin des gestrigen Abends. Aber ihre Erscheinung war heut eine andere. Sie trug sich ganz in Schwarz, den Rock von feiner Wolle, Schürze, Kopf- und Busentuch von Seidenstoff. Die blendend weißen kurzen Aermel sahen unter den langen Fransen ihres schön gefalteten Brusttuches hervor, und ein Theil ihres blonden Haars kam an den Schläfen zum Vorschein. Diese Tracht war nicht Trauer -- denn die Farbe der Leidtragenden ist durchaus weiß -- sondern freie Wahl, Geschmackssache der Dorfaristokratie im Spreewalde (auch wieder ein Anklang an die Sitte der Lagunenstadt). Das einzige Farbige, was das Mädchen als Schmuck an sich trug, war ein Strauß von künstlichen Blumen und Flittergold, der Pathenstrauß, mit einer langen, bunten Bandschleife. Neugierig richtete sie ihre großen, blauen Augen auf uns und unsern Führer, ließ sie aber mit dem Ausdruck des Unwillens auf ihren Strauß sinken. Eben solche und noch verächtlichere Blicke wurden uns von den übrigen In dem Hauptkahn saß eine Frau, den Täufling auf den Knieen, umgeben von den Pathen. Plötzlich fuhr Victor auf mit den Worten: Da ist sie, da! — Ehe ich noch der Richtung seiner Augen folgte, ließ ich meine Blicke zufällig über unsern Führer streifen. Ich bemerkte in Sardok's Zügen eine Verzerrung der Wuth, die mich mit Schreck erfüllte, und sah, wie er darauf das Mädchen, auf welches Victor wies, mit den Augen zu verzehren schien. Auch ich erkannte in ihr die Schlangenkönigin des gestrigen Abends. Aber ihre Erscheinung war heut eine andere. Sie trug sich ganz in Schwarz, den Rock von feiner Wolle, Schürze, Kopf- und Busentuch von Seidenstoff. Die blendend weißen kurzen Aermel sahen unter den langen Fransen ihres schön gefalteten Brusttuches hervor, und ein Theil ihres blonden Haars kam an den Schläfen zum Vorschein. Diese Tracht war nicht Trauer — denn die Farbe der Leidtragenden ist durchaus weiß — sondern freie Wahl, Geschmackssache der Dorfaristokratie im Spreewalde (auch wieder ein Anklang an die Sitte der Lagunenstadt). Das einzige Farbige, was das Mädchen als Schmuck an sich trug, war ein Strauß von künstlichen Blumen und Flittergold, der Pathenstrauß, mit einer langen, bunten Bandschleife. Neugierig richtete sie ihre großen, blauen Augen auf uns und unsern Führer, ließ sie aber mit dem Ausdruck des Unwillens auf ihren Strauß sinken. Eben solche und noch verächtlichere Blicke wurden uns von den übrigen <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0038"/> In dem Hauptkahn saß eine Frau, den Täufling auf den Knieen, umgeben von den Pathen. Plötzlich fuhr Victor auf mit den Worten: Da ist sie, da! — Ehe ich noch der Richtung seiner Augen folgte, ließ ich meine Blicke zufällig über unsern Führer streifen. Ich bemerkte in Sardok's Zügen eine Verzerrung der Wuth, die mich mit Schreck erfüllte, und sah, wie er darauf das Mädchen, auf welches Victor wies, mit den Augen zu verzehren schien. Auch ich erkannte in ihr die Schlangenkönigin des gestrigen Abends. Aber ihre Erscheinung war heut eine andere. Sie trug sich ganz in Schwarz, den Rock von feiner Wolle, Schürze, Kopf- und Busentuch von Seidenstoff. Die blendend weißen kurzen Aermel sahen unter den langen Fransen ihres schön gefalteten Brusttuches hervor, und ein Theil ihres blonden Haars kam an den Schläfen zum Vorschein. Diese Tracht war nicht Trauer — denn die Farbe der Leidtragenden ist durchaus weiß — sondern freie Wahl, Geschmackssache der Dorfaristokratie im Spreewalde (auch wieder ein Anklang an die Sitte der Lagunenstadt). Das einzige Farbige, was das Mädchen als Schmuck an sich trug, war ein Strauß von künstlichen Blumen und Flittergold, der Pathenstrauß, mit einer langen, bunten Bandschleife. Neugierig richtete sie ihre großen, blauen Augen auf uns und unsern Führer, ließ sie aber mit dem Ausdruck des Unwillens auf ihren Strauß sinken. Eben solche und noch verächtlichere Blicke wurden uns von den übrigen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0038]
In dem Hauptkahn saß eine Frau, den Täufling auf den Knieen, umgeben von den Pathen. Plötzlich fuhr Victor auf mit den Worten: Da ist sie, da! — Ehe ich noch der Richtung seiner Augen folgte, ließ ich meine Blicke zufällig über unsern Führer streifen. Ich bemerkte in Sardok's Zügen eine Verzerrung der Wuth, die mich mit Schreck erfüllte, und sah, wie er darauf das Mädchen, auf welches Victor wies, mit den Augen zu verzehren schien. Auch ich erkannte in ihr die Schlangenkönigin des gestrigen Abends. Aber ihre Erscheinung war heut eine andere. Sie trug sich ganz in Schwarz, den Rock von feiner Wolle, Schürze, Kopf- und Busentuch von Seidenstoff. Die blendend weißen kurzen Aermel sahen unter den langen Fransen ihres schön gefalteten Brusttuches hervor, und ein Theil ihres blonden Haars kam an den Schläfen zum Vorschein. Diese Tracht war nicht Trauer — denn die Farbe der Leidtragenden ist durchaus weiß — sondern freie Wahl, Geschmackssache der Dorfaristokratie im Spreewalde (auch wieder ein Anklang an die Sitte der Lagunenstadt). Das einzige Farbige, was das Mädchen als Schmuck an sich trug, war ein Strauß von künstlichen Blumen und Flittergold, der Pathenstrauß, mit einer langen, bunten Bandschleife. Neugierig richtete sie ihre großen, blauen Augen auf uns und unsern Führer, ließ sie aber mit dem Ausdruck des Unwillens auf ihren Strauß sinken. Eben solche und noch verächtlichere Blicke wurden uns von den übrigen
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Zitationshilfe: | Roquette, Otto: Die Schlangenkönigin. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 221–335. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roquette_schlangenkoenigin_1910/38>, abgerufen am 19.07.2024. |