§. 10. Er bemühet sich, die ihm vorgeschriebene Pflichten, nach aller Möglichkeit zu erfüllen, und sich auf keinerley Weise die Ungnade seiner Herr- schafft über den Halß zu ziehen, jedoch bestrebet er sich nicht mit aller Gewalt einen Favori oder Mi- gnon abzugeben. Eine mäßige Gnade und ein mäßig Glück achtet er vor weit sicherer und dauer- haffter, als eine allzugroße Gnade; denn wenn die Hof-Sonne am allerheißesten scheinet, so kan man gar offt eines trüben Sturmes desto eher vermu- thend seyn. Jst er aber zu einer besondern Gnade kommen, so überhebet er sich nicht seines Glückes, er läst sich hiedurch zu keiner Familiaritaet verleiten, sonder beobachtet allezeit den Respect, den er ihr schuldig ist, je mehr Ehrerbietung er gegen seine Herrschafft bezeuget, je mehr bleibt er auch selbst bey Ehren. Er ist so wohl zu dieser Zeit, als zu ei- ner andern, gegen einen jeden höflich und leutseelig, er giebt niemand an, sondern entschuldiget einem je- den, so viel als die Pflicht und das Gewissen zulassen will. Er mißbraucht die Gnade der Herrschafft nicht zu Sättigung seines Eigennutzes, sondern be- dienet sich derselben mehr zu dem Dienst seines Nächsten, so erwürbet er bey Hofe, und in der Stadt destomehr Liebe und Freundschafft, und entgehet dem Neid. Ein jeder wünscht ihm so dann die Verlängerung und Vergrößerung seines Glücks, und macht sich bey einem plötzlichen entste- hendem Unfall auf einige Bedeckung gefast.
§. 11. Ein junger Hof-Mann thut wohl, wenn
er
I. Theil. VIII. Capitul.
§. 10. Er bemuͤhet ſich, die ihm vorgeſchriebene Pflichten, nach aller Moͤglichkeit zu erfuͤllen, und ſich auf keinerley Weiſe die Ungnade ſeiner Herr- ſchafft uͤber den Halß zu ziehen, jedoch beſtrebet er ſich nicht mit aller Gewalt einen Favori oder Mi- gnon abzugeben. Eine maͤßige Gnade und ein maͤßig Gluͤck achtet er vor weit ſicherer und dauer- haffter, als eine allzugroße Gnade; denn wenn die Hof-Sonne am allerheißeſten ſcheinet, ſo kan man gar offt eines truͤben Sturmes deſto eher vermu- thend ſeyn. Jſt er aber zu einer beſondern Gnade kommen, ſo uͤberhebet er ſich nicht ſeines Gluͤckes, er laͤſt ſich hiedurch zu keiner Familiaritæt verleiten, ſonder beobachtet allezeit den Reſpect, den er ihr ſchuldig iſt, je mehr Ehrerbietung er gegen ſeine Herrſchafft bezeuget, je mehr bleibt er auch ſelbſt bey Ehren. Er iſt ſo wohl zu dieſer Zeit, als zu ei- ner andern, gegen einen jeden hoͤflich und leutſeelig, er giebt niemand an, ſondern entſchuldiget einem je- den, ſo viel als die Pflicht und das Gewiſſen zulaſſen will. Er mißbraucht die Gnade der Herrſchafft nicht zu Saͤttigung ſeines Eigennutzes, ſondern be- dienet ſich derſelben mehr zu dem Dienſt ſeines Naͤchſten, ſo erwuͤrbet er bey Hofe, und in der Stadt deſtomehr Liebe und Freundſchafft, und entgehet dem Neid. Ein jeder wuͤnſcht ihm ſo dann die Verlaͤngerung und Vergroͤßerung ſeines Gluͤcks, und macht ſich bey einem ploͤtzlichen entſte- hendem Unfall auf einige Bedeckung gefaſt.
§. 11. Ein junger Hof-Mann thut wohl, wenn
er
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I. Theil. VIII. Capitul.
§. 10. Er bemuͤhet ſich, die ihm vorgeſchriebene
Pflichten, nach aller Moͤglichkeit zu erfuͤllen, und
ſich auf keinerley Weiſe die Ungnade ſeiner Herr-
ſchafft uͤber den Halß zu ziehen, jedoch beſtrebet er
ſich nicht mit aller Gewalt einen Favori oder Mi-
gnon abzugeben. Eine maͤßige Gnade und ein
maͤßig Gluͤck achtet er vor weit ſicherer und dauer-
haffter, als eine allzugroße Gnade; denn wenn die
Hof-Sonne am allerheißeſten ſcheinet, ſo kan man
gar offt eines truͤben Sturmes deſto eher vermu-
thend ſeyn. Jſt er aber zu einer beſondern Gnade
kommen, ſo uͤberhebet er ſich nicht ſeines Gluͤckes,
er laͤſt ſich hiedurch zu keiner Familiaritæt verleiten,
ſonder beobachtet allezeit den Reſpect, den er ihr
ſchuldig iſt, je mehr Ehrerbietung er gegen ſeine
Herrſchafft bezeuget, je mehr bleibt er auch ſelbſt
bey Ehren. Er iſt ſo wohl zu dieſer Zeit, als zu ei-
ner andern, gegen einen jeden hoͤflich und leutſeelig,
er giebt niemand an, ſondern entſchuldiget einem je-
den, ſo viel als die Pflicht und das Gewiſſen zulaſſen
will. Er mißbraucht die Gnade der Herrſchafft
nicht zu Saͤttigung ſeines Eigennutzes, ſondern be-
dienet ſich derſelben mehr zu dem Dienſt ſeines
Naͤchſten, ſo erwuͤrbet er bey Hofe, und in der
Stadt deſtomehr Liebe und Freundſchafft, und
entgehet dem Neid. Ein jeder wuͤnſcht ihm ſo
dann die Verlaͤngerung und Vergroͤßerung ſeines
Gluͤcks, und macht ſich bey einem ploͤtzlichen entſte-
hendem Unfall auf einige Bedeckung gefaſt.
§. 11. Ein junger Hof-Mann thut wohl, wenn
er
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Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Berlin, 1728, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohr_einleitung_1728/250>, abgerufen am 16.02.2025.
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