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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Aber die Bedingungen für ein solches Wunder sind alle in
homerischen Vorstellungen gegeben. Menelaos wird durch
Göttermacht entrafft, und führt fern von der Welt der Sterb-
lichen ein ewiges Leben. Dass ein Gott seinen sterblichen
Schützling den Blicken der Menschen plötzlich entziehen und
ungesehen durch die Luft davon führen könne, ist ein Glaube,
der in nicht wenigen Vorgängen der Schlachten der Ilias seine
Anwendung findet 1). Die Götter können aber auch einen
Sterblichen auf lange Zeit "unsichtbar machen". Da Odysseus
den Seinen so lange schon entschwunden ist, vermuthen
sie, dass die Götter ihn "unsichtbar gemacht" haben (Od. 1,
235 ff.); er ist, meinen sie, nicht gestorben (v. 236), sondern
"die Harpyien haben ihn entrafft", und so ist er aller Kunde
entrückt (Od. 1, 241 f.; 14, 371). Penelope in ihrem Jammer
wünscht sich entweder schnellen Tod durch die Geschosse
der Artemis, oder dass sie emporgerissen ein Sturmwind ent-

dings über, sie ist weder durch die erste Bitte des Menelaos (468 ff.),
noch durch dessen weitere Fragen (486 ff.; 551 ff.) nothwendig gemacht
oder auch nur gerechtfertigt. -- Schon Nitzsch hielt die Verse 561--568
für eine spätere Einlage: Anm. zur Odyssee III p. 352, freilich mit einer
Begründung, die ich nicht für beweiskräftig halten kann. Dann Andere
ebenso.
1) Unsichtbarmachung (durch Verhüllung in einer Wolke) und Ent-
raffung (die nicht überall ausdrücklich hervorgehoben wird, aber wohl über-
all hinzuzudenken ist): des Paris durch Aphrodite, Il. G 380 ff.; des Ae-
neas durch Apollo, E 344 f.; des Idaios, Sohnes des Hephaestospriesters
Dares, durch Hephaestos E 23; des Hektor durch Apollo, U 443 f.;
des Aeneas durch Poseidon U 325 ff.; des Antenor durch Apollo, Ph
596 ff. (diese letzte, wie es scheint, die Originalscene, die in den Schil-
derungen dieses selben Schlachttages in den vorher genannten Aus-
führungen des gleichen Motivs, U 325 ff.; 443 f. noch zweimal von
späteren Dichtern nachgeahmt worden ist). Auffallend ist (weil sich kaum
ein besonderer Grund hierfür denken lässt), dass alle diese Beispiele der
Entrückung auf Helden der troischen Seite treffen. Sonst noch, aber
nur in Wiedergabe eines längst vergangenen Abenteuers: Entrückung
der Aktorionen durch ihren Vater Poseidon: L 750 ff. Endlich könnte
(was über die angeführten Fälle nur wenig hinausginge) Zeus seinen Sohn
Sarpedon lebendig aus der Schlacht entraffen und nach seiner Heimath
Lykien versetzen: II 436 ff.; er steht aber auf die Mahnungen der Here
(440 ff.) von solchem Vorsatz ab.
Rohde, Seelencult. 5

Aber die Bedingungen für ein solches Wunder sind alle in
homerischen Vorstellungen gegeben. Menelaos wird durch
Göttermacht entrafft, und führt fern von der Welt der Sterb-
lichen ein ewiges Leben. Dass ein Gott seinen sterblichen
Schützling den Blicken der Menschen plötzlich entziehen und
ungesehen durch die Luft davon führen könne, ist ein Glaube,
der in nicht wenigen Vorgängen der Schlachten der Ilias seine
Anwendung findet 1). Die Götter können aber auch einen
Sterblichen auf lange Zeit „unsichtbar machen“. Da Odysseus
den Seinen so lange schon entschwunden ist, vermuthen
sie, dass die Götter ihn „unsichtbar gemacht“ haben (Od. 1,
235 ff.); er ist, meinen sie, nicht gestorben (v. 236), sondern
„die Harpyien haben ihn entrafft“, und so ist er aller Kunde
entrückt (Od. 1, 241 f.; 14, 371). Penelope in ihrem Jammer
wünscht sich entweder schnellen Tod durch die Geschosse
der Artemis, oder dass sie emporgerissen ein Sturmwind ent-

dings über, sie ist weder durch die erste Bitte des Menelaos (468 ff.),
noch durch dessen weitere Fragen (486 ff.; 551 ff.) nothwendig gemacht
oder auch nur gerechtfertigt. — Schon Nitzsch hielt die Verse 561—568
für eine spätere Einlage: Anm. zur Odyssee III p. 352, freilich mit einer
Begründung, die ich nicht für beweiskräftig halten kann. Dann Andere
ebenso.
1) Unsichtbarmachung (durch Verhüllung in einer Wolke) und Ent-
raffung (die nicht überall ausdrücklich hervorgehoben wird, aber wohl über-
all hinzuzudenken ist): des Paris durch Aphrodite, Il. Γ 380 ff.; des Ae-
neas durch Apollo, E 344 f.; des Idaios, Sohnes des Hephaestospriesters
Dares, durch Hephaestos E 23; des Hektor durch Apollo, ϒ 443 f.;
des Aeneas durch Poseidon ϒ 325 ff.; des Antenor durch Apollo, Φ
596 ff. (diese letzte, wie es scheint, die Originalscene, die in den Schil-
derungen dieses selben Schlachttages in den vorher genannten Aus-
führungen des gleichen Motivs, ϒ 325 ff.; 443 f. noch zweimal von
späteren Dichtern nachgeahmt worden ist). Auffallend ist (weil sich kaum
ein besonderer Grund hierfür denken lässt), dass alle diese Beispiele der
Entrückung auf Helden der troischen Seite treffen. Sonst noch, aber
nur in Wiedergabe eines längst vergangenen Abenteuers: Entrückung
der Aktorionen durch ihren Vater Poseidon: Λ 750 ff. Endlich könnte
(was über die angeführten Fälle nur wenig hinausginge) Zeus seinen Sohn
Sarpedon lebendig aus der Schlacht entraffen und nach seiner Heimath
Lykien versetzen: II 436 ff.; er steht aber auf die Mahnungen der Here
(440 ff.) von solchem Vorsatz ab.
Rohde, Seelencult. 5
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[65/0081] Aber die Bedingungen für ein solches Wunder sind alle in homerischen Vorstellungen gegeben. Menelaos wird durch Göttermacht entrafft, und führt fern von der Welt der Sterb- lichen ein ewiges Leben. Dass ein Gott seinen sterblichen Schützling den Blicken der Menschen plötzlich entziehen und ungesehen durch die Luft davon führen könne, ist ein Glaube, der in nicht wenigen Vorgängen der Schlachten der Ilias seine Anwendung findet 1). Die Götter können aber auch einen Sterblichen auf lange Zeit „unsichtbar machen“. Da Odysseus den Seinen so lange schon entschwunden ist, vermuthen sie, dass die Götter ihn „unsichtbar gemacht“ haben (Od. 1, 235 ff.); er ist, meinen sie, nicht gestorben (v. 236), sondern „die Harpyien haben ihn entrafft“, und so ist er aller Kunde entrückt (Od. 1, 241 f.; 14, 371). Penelope in ihrem Jammer wünscht sich entweder schnellen Tod durch die Geschosse der Artemis, oder dass sie emporgerissen ein Sturmwind ent- 2) 1) Unsichtbarmachung (durch Verhüllung in einer Wolke) und Ent- raffung (die nicht überall ausdrücklich hervorgehoben wird, aber wohl über- all hinzuzudenken ist): des Paris durch Aphrodite, Il. Γ 380 ff.; des Ae- neas durch Apollo, E 344 f.; des Idaios, Sohnes des Hephaestospriesters Dares, durch Hephaestos E 23; des Hektor durch Apollo, ϒ 443 f.; des Aeneas durch Poseidon ϒ 325 ff.; des Antenor durch Apollo, Φ 596 ff. (diese letzte, wie es scheint, die Originalscene, die in den Schil- derungen dieses selben Schlachttages in den vorher genannten Aus- führungen des gleichen Motivs, ϒ 325 ff.; 443 f. noch zweimal von späteren Dichtern nachgeahmt worden ist). Auffallend ist (weil sich kaum ein besonderer Grund hierfür denken lässt), dass alle diese Beispiele der Entrückung auf Helden der troischen Seite treffen. Sonst noch, aber nur in Wiedergabe eines längst vergangenen Abenteuers: Entrückung der Aktorionen durch ihren Vater Poseidon: Λ 750 ff. Endlich könnte (was über die angeführten Fälle nur wenig hinausginge) Zeus seinen Sohn Sarpedon lebendig aus der Schlacht entraffen und nach seiner Heimath Lykien versetzen: II 436 ff.; er steht aber auf die Mahnungen der Here (440 ff.) von solchem Vorsatz ab. 2) dings über, sie ist weder durch die erste Bitte des Menelaos (468 ff.), noch durch dessen weitere Fragen (486 ff.; 551 ff.) nothwendig gemacht oder auch nur gerechtfertigt. — Schon Nitzsch hielt die Verse 561—568 für eine spätere Einlage: Anm. zur Odyssee III p. 352, freilich mit einer Begründung, die ich nicht für beweiskräftig halten kann. Dann Andere ebenso. Rohde, Seelencult. 5

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/81>, abgerufen am 02.05.2024.