Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

send, einer Vorstellung auf Kosten der anderen zum Sieg ver-
holfen.

Wie sich gleichwohl unter den mannichfachen Formen des
Glaubens und der Erwartung oder Hoffnung, die möglich und
Niemanden verwehrt blieben, die eine mehr und stärker als die
andere der Gemüther bemächtigt habe, möchte man wohl von
den zahlreichen Aufschriften griechischer Grabsteine, in denen,
vornehmlich in diesen späteren Zeiten, der Glaube des Volkes
sich ganz nach eigener Einsicht unbefangen ausspricht, ablesen
zu können glauben. Doch lässt nicht ohne vorsichtige Er-
wägung aus dieser Quelle sich zuverlässige Kunde schöpfen.

Wandeln wir in Gedanken durch die langen Reihen grie-
chischer Gräberstrassen, und lesen die Inschriften der Grab-
steine, die von diesen in unsere Schatzkammern griechischer
Epigraphik übergegangen sind, so muss uns zunächst auffallen,
wie vollständig schweigsam die übergrosse Mehrzahl dieser In-
schriften in Bezug auf jegliche, wie immer gestaltete Hoffnung
oder Erwartung eines Lebens der Seele nach dem Tode ist.
Sie begnügen sich mit Nennung des Namens, Vaternamens
und (wo sie in der Ferne liegt) der Heimath des Verstorbenen.
Kaum dass der Brauch einzelner Landschaften noch ein "Lebe
wohl" hinzufügt. Es würde nicht genügen, zur Erklärung dieses
hartnäckigen Schweigens sich allein auf die Sparsamkeit der
Hinterbliebenen des Bestatteten (der hier und da wohl gar das
Gesetz der Stadt in einem Verbot wortreicher Grabschriften
zu Hilfe kam) 1), zu berufen. Das Schweigen dieser, in Prosa
und Versen redefrohesten Menschen hat seine eigene Beredt-
samkeit. Die tröstenden Hoffnungen, die ihnen auszusprechen
kein Bedürfniss war, können ihnen nicht wohl die Bedeutung
einer lebendig gegenwärtigen Ueberzeugung gehabt haben. Sie
entreissen der Vergänglichkeit allein was einst ihr ausschliess-
lich Eigenes war, den Namen, der sie von allen Anderen unter-
schied, jetzt die leerste Hülle der vordem lebendigen Persön-

1) So, wie es scheint, in Sikyon. Pausan. 2, 7, 2.

send, einer Vorstellung auf Kosten der anderen zum Sieg ver-
holfen.

Wie sich gleichwohl unter den mannichfachen Formen des
Glaubens und der Erwartung oder Hoffnung, die möglich und
Niemanden verwehrt blieben, die eine mehr und stärker als die
andere der Gemüther bemächtigt habe, möchte man wohl von
den zahlreichen Aufschriften griechischer Grabsteine, in denen,
vornehmlich in diesen späteren Zeiten, der Glaube des Volkes
sich ganz nach eigener Einsicht unbefangen ausspricht, ablesen
zu können glauben. Doch lässt nicht ohne vorsichtige Er-
wägung aus dieser Quelle sich zuverlässige Kunde schöpfen.

Wandeln wir in Gedanken durch die langen Reihen grie-
chischer Gräberstrassen, und lesen die Inschriften der Grab-
steine, die von diesen in unsere Schatzkammern griechischer
Epigraphik übergegangen sind, so muss uns zunächst auffallen,
wie vollständig schweigsam die übergrosse Mehrzahl dieser In-
schriften in Bezug auf jegliche, wie immer gestaltete Hoffnung
oder Erwartung eines Lebens der Seele nach dem Tode ist.
Sie begnügen sich mit Nennung des Namens, Vaternamens
und (wo sie in der Ferne liegt) der Heimath des Verstorbenen.
Kaum dass der Brauch einzelner Landschaften noch ein „Lebe
wohl“ hinzufügt. Es würde nicht genügen, zur Erklärung dieses
hartnäckigen Schweigens sich allein auf die Sparsamkeit der
Hinterbliebenen des Bestatteten (der hier und da wohl gar das
Gesetz der Stadt in einem Verbot wortreicher Grabschriften
zu Hilfe kam) 1), zu berufen. Das Schweigen dieser, in Prosa
und Versen redefrohesten Menschen hat seine eigene Beredt-
samkeit. Die tröstenden Hoffnungen, die ihnen auszusprechen
kein Bedürfniss war, können ihnen nicht wohl die Bedeutung
einer lebendig gegenwärtigen Ueberzeugung gehabt haben. Sie
entreissen der Vergänglichkeit allein was einst ihr ausschliess-
lich Eigenes war, den Namen, der sie von allen Anderen unter-
schied, jetzt die leerste Hülle der vordem lebendigen Persön-

1) So, wie es scheint, in Sikyon. Pausan. 2, 7, 2.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0684" n="668"/>
send, einer Vorstellung auf Kosten der anderen zum Sieg ver-<lb/>
holfen.</p><lb/>
            <p>Wie sich gleichwohl unter den mannichfachen Formen des<lb/>
Glaubens und der Erwartung oder Hoffnung, die möglich und<lb/>
Niemanden verwehrt blieben, die eine mehr und stärker als die<lb/>
andere der Gemüther bemächtigt habe, möchte man wohl von<lb/>
den zahlreichen Aufschriften griechischer Grabsteine, in denen,<lb/>
vornehmlich in diesen späteren Zeiten, der Glaube des Volkes<lb/>
sich ganz nach eigener Einsicht unbefangen ausspricht, ablesen<lb/>
zu können glauben. Doch lässt nicht ohne vorsichtige Er-<lb/>
wägung aus dieser Quelle sich zuverlässige Kunde schöpfen.</p><lb/>
            <p>Wandeln wir in Gedanken durch die langen Reihen grie-<lb/>
chischer Gräberstrassen, und lesen die Inschriften der Grab-<lb/>
steine, die von diesen in unsere Schatzkammern griechischer<lb/>
Epigraphik übergegangen sind, so muss uns zunächst auffallen,<lb/>
wie vollständig schweigsam die übergrosse Mehrzahl dieser In-<lb/>
schriften in Bezug auf jegliche, wie immer gestaltete Hoffnung<lb/>
oder Erwartung eines Lebens der Seele nach dem Tode ist.<lb/>
Sie begnügen sich mit Nennung des Namens, Vaternamens<lb/>
und (wo sie in der Ferne liegt) der Heimath des Verstorbenen.<lb/>
Kaum dass der Brauch einzelner Landschaften noch ein &#x201E;Lebe<lb/>
wohl&#x201C; hinzufügt. Es würde nicht genügen, zur Erklärung dieses<lb/>
hartnäckigen Schweigens sich allein auf die Sparsamkeit der<lb/>
Hinterbliebenen des Bestatteten (der hier und da wohl gar das<lb/>
Gesetz der Stadt in einem Verbot wortreicher Grabschriften<lb/>
zu Hilfe kam) <note place="foot" n="1)">So, wie es scheint, in Sikyon. Pausan. 2, 7, 2.</note>, zu berufen. Das Schweigen dieser, in Prosa<lb/>
und Versen redefrohesten Menschen hat seine eigene Beredt-<lb/>
samkeit. Die tröstenden Hoffnungen, die ihnen auszusprechen<lb/>
kein Bedürfniss war, können ihnen nicht wohl die Bedeutung<lb/>
einer lebendig gegenwärtigen Ueberzeugung gehabt haben. Sie<lb/>
entreissen der Vergänglichkeit allein was einst ihr ausschliess-<lb/>
lich Eigenes war, den Namen, der sie von allen Anderen unter-<lb/>
schied, jetzt die leerste Hülle der vordem lebendigen Persön-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[668/0684] send, einer Vorstellung auf Kosten der anderen zum Sieg ver- holfen. Wie sich gleichwohl unter den mannichfachen Formen des Glaubens und der Erwartung oder Hoffnung, die möglich und Niemanden verwehrt blieben, die eine mehr und stärker als die andere der Gemüther bemächtigt habe, möchte man wohl von den zahlreichen Aufschriften griechischer Grabsteine, in denen, vornehmlich in diesen späteren Zeiten, der Glaube des Volkes sich ganz nach eigener Einsicht unbefangen ausspricht, ablesen zu können glauben. Doch lässt nicht ohne vorsichtige Er- wägung aus dieser Quelle sich zuverlässige Kunde schöpfen. Wandeln wir in Gedanken durch die langen Reihen grie- chischer Gräberstrassen, und lesen die Inschriften der Grab- steine, die von diesen in unsere Schatzkammern griechischer Epigraphik übergegangen sind, so muss uns zunächst auffallen, wie vollständig schweigsam die übergrosse Mehrzahl dieser In- schriften in Bezug auf jegliche, wie immer gestaltete Hoffnung oder Erwartung eines Lebens der Seele nach dem Tode ist. Sie begnügen sich mit Nennung des Namens, Vaternamens und (wo sie in der Ferne liegt) der Heimath des Verstorbenen. Kaum dass der Brauch einzelner Landschaften noch ein „Lebe wohl“ hinzufügt. Es würde nicht genügen, zur Erklärung dieses hartnäckigen Schweigens sich allein auf die Sparsamkeit der Hinterbliebenen des Bestatteten (der hier und da wohl gar das Gesetz der Stadt in einem Verbot wortreicher Grabschriften zu Hilfe kam) 1), zu berufen. Das Schweigen dieser, in Prosa und Versen redefrohesten Menschen hat seine eigene Beredt- samkeit. Die tröstenden Hoffnungen, die ihnen auszusprechen kein Bedürfniss war, können ihnen nicht wohl die Bedeutung einer lebendig gegenwärtigen Ueberzeugung gehabt haben. Sie entreissen der Vergänglichkeit allein was einst ihr ausschliess- lich Eigenes war, den Namen, der sie von allen Anderen unter- schied, jetzt die leerste Hülle der vordem lebendigen Persön- 1) So, wie es scheint, in Sikyon. Pausan. 2, 7, 2.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/684
Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 668. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/684>, abgerufen am 19.05.2024.