Patroklos und Hektor im Augenblick der Loslösung der Psyche vom Leibe 1). Alles dieses wird auch ihn verlassen, sobald sein Leib vernichtet ist. Tiresias allein, der Seher, den die Theba- nische Sage berühmt vor allen gemacht hatte, hat Bewusst- sein und sogar Sehergabe auch unter den Schatten, durch Gnade der Persephone, bewahrt; aber das ist eine Ausnahme, welche die Regel nur bestätigt. Fast wie absichtliche Bekräf- tigung orthodox homerischer Ansicht nimmt sich aus, was Antikleia dem Sohne von der Kraft- und Wesenlosigkeit der Seele nach Verbrennung des Leibes sagt 2). Alles in der Dar- stellung dieses Dichters bestätigt die Wahrheit dieses Glaubens; und wenn die Lebenden freilich Ruhe haben vor den macht- los in's Dunkle gebannten Seelen, so tönt hier aus dem Erebos selbst in dumpfem Klange uns das Traurige dieser Vorstellung entgegen, in der Klage des Achill, mit der er den Trost- zuspruch des Freundes abweist -- Jeder kennt die unvergess- lichen Worte.
3.
Dennoch wagt der Dichter einen bedeutsamen Schritt über Homer hinaus zu thun. Was er von dem Zuständlichen im Reiche des Hades mehr andeutet als sagt, streitet ja in keinem Puncte mit der homerischen Darstellung. Aber neu ist doch, dass dieser Zustand, wenn auch nur auf eine kurze Weile, unter- brochen werden kann. Der Bluttrunk giebt den Seelen momen- tanes Bewusstsein zurück, es strömt das Andenken an die obere Welt ihnen wieder zu; ihr Bewusstsein ist also, müssen wir
1) S. Il. 16, 851 ff. (Patroklos), 22, 358 ff. (Hektor), Od. 11, 69 ff. Zu Grunde liegt der alte Glaube, dass die Seele, im Begriff frei zu werden, in einen Zustand erhöheten Lebens, an Sinneswahrnehmung nicht gebundener Erkenntnissfähigkeit zurückkehre (vgl. Artemon in Schol. Il. II 854, Aristotel. fr. 12 R.); sonst ist es (bei Homer) nur der Gott, ja eigentlich nur Zeus, der Alles voraussieht. Mit Bewusstsein ist aber die Darstellung soweit herabgemindert, dass eine unbestimmte Mitte zwischen eigentlicher Prophezeiung und blossem stokhazesthai eingehalten wird (vgl. Schol. B. V. Il. X 359); höchstens Il. 22, 359 geht darüber hinaus.
2) 11, 218--224.
4*
Patroklos und Hektor im Augenblick der Loslösung der Psyche vom Leibe 1). Alles dieses wird auch ihn verlassen, sobald sein Leib vernichtet ist. Tiresias allein, der Seher, den die Theba- nische Sage berühmt vor allen gemacht hatte, hat Bewusst- sein und sogar Sehergabe auch unter den Schatten, durch Gnade der Persephone, bewahrt; aber das ist eine Ausnahme, welche die Regel nur bestätigt. Fast wie absichtliche Bekräf- tigung orthodox homerischer Ansicht nimmt sich aus, was Antikleia dem Sohne von der Kraft- und Wesenlosigkeit der Seele nach Verbrennung des Leibes sagt 2). Alles in der Dar- stellung dieses Dichters bestätigt die Wahrheit dieses Glaubens; und wenn die Lebenden freilich Ruhe haben vor den macht- los in’s Dunkle gebannten Seelen, so tönt hier aus dem Erebos selbst in dumpfem Klange uns das Traurige dieser Vorstellung entgegen, in der Klage des Achill, mit der er den Trost- zuspruch des Freundes abweist — Jeder kennt die unvergess- lichen Worte.
3.
Dennoch wagt der Dichter einen bedeutsamen Schritt über Homer hinaus zu thun. Was er von dem Zuständlichen im Reiche des Hades mehr andeutet als sagt, streitet ja in keinem Puncte mit der homerischen Darstellung. Aber neu ist doch, dass dieser Zustand, wenn auch nur auf eine kurze Weile, unter- brochen werden kann. Der Bluttrunk giebt den Seelen momen- tanes Bewusstsein zurück, es strömt das Andenken an die obere Welt ihnen wieder zu; ihr Bewusstsein ist also, müssen wir
1) S. Il. 16, 851 ff. (Patroklos), 22, 358 ff. (Hektor), Od. 11, 69 ff. Zu Grunde liegt der alte Glaube, dass die Seele, im Begriff frei zu werden, in einen Zustand erhöheten Lebens, an Sinneswahrnehmung nicht gebundener Erkenntnissfähigkeit zurückkehre (vgl. Artemon in Schol. Il. II 854, Aristotel. fr. 12 R.); sonst ist es (bei Homer) nur der Gott, ja eigentlich nur Zeus, der Alles voraussieht. Mit Bewusstsein ist aber die Darstellung soweit herabgemindert, dass eine unbestimmte Mitte zwischen eigentlicher Prophezeiung und blossem στοχάζεσϑαι eingehalten wird (vgl. Schol. B. V. Il. X 359); höchstens Il. 22, 359 geht darüber hinaus.
2) 11, 218—224.
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[51/0067]
Patroklos und Hektor im Augenblick der Loslösung der Psyche
vom Leibe 1). Alles dieses wird auch ihn verlassen, sobald sein
Leib vernichtet ist. Tiresias allein, der Seher, den die Theba-
nische Sage berühmt vor allen gemacht hatte, hat Bewusst-
sein und sogar Sehergabe auch unter den Schatten, durch
Gnade der Persephone, bewahrt; aber das ist eine Ausnahme,
welche die Regel nur bestätigt. Fast wie absichtliche Bekräf-
tigung orthodox homerischer Ansicht nimmt sich aus, was
Antikleia dem Sohne von der Kraft- und Wesenlosigkeit der
Seele nach Verbrennung des Leibes sagt 2). Alles in der Dar-
stellung dieses Dichters bestätigt die Wahrheit dieses Glaubens;
und wenn die Lebenden freilich Ruhe haben vor den macht-
los in’s Dunkle gebannten Seelen, so tönt hier aus dem Erebos
selbst in dumpfem Klange uns das Traurige dieser Vorstellung
entgegen, in der Klage des Achill, mit der er den Trost-
zuspruch des Freundes abweist — Jeder kennt die unvergess-
lichen Worte.
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Dennoch wagt der Dichter einen bedeutsamen Schritt über
Homer hinaus zu thun. Was er von dem Zuständlichen im
Reiche des Hades mehr andeutet als sagt, streitet ja in keinem
Puncte mit der homerischen Darstellung. Aber neu ist doch,
dass dieser Zustand, wenn auch nur auf eine kurze Weile, unter-
brochen werden kann. Der Bluttrunk giebt den Seelen momen-
tanes Bewusstsein zurück, es strömt das Andenken an die obere
Welt ihnen wieder zu; ihr Bewusstsein ist also, müssen wir
1) S. Il. 16, 851 ff. (Patroklos), 22, 358 ff. (Hektor), Od. 11, 69 ff.
Zu Grunde liegt der alte Glaube, dass die Seele, im Begriff frei zu
werden, in einen Zustand erhöheten Lebens, an Sinneswahrnehmung nicht
gebundener Erkenntnissfähigkeit zurückkehre (vgl. Artemon in Schol. Il.
II 854, Aristotel. fr. 12 R.); sonst ist es (bei Homer) nur der Gott, ja
eigentlich nur Zeus, der Alles voraussieht. Mit Bewusstsein ist aber die
Darstellung soweit herabgemindert, dass eine unbestimmte Mitte zwischen
eigentlicher Prophezeiung und blossem στοχάζεσϑαι eingehalten wird (vgl.
Schol. B. V. Il. X 359); höchstens Il. 22, 359 geht darüber hinaus.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/67>, abgerufen am 24.11.2024.
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