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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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leben der Abgeschiedenen und dessen Bethätigung in dem
regelmässigen Ablauf der Alltäglichkeit nur spärlich Kunde.

Es giebt auch eine unheimlichere Weise des Verkehrs mit
den Seelengeistern. Sie können ungerufen den Lebenden er-
scheinen; sie können durch Zaubers Gewalt gezwungen werden,
im Dienst der Lebendigen ihre Macht zu brauchen. Beides
gilt vornehmlich von den unruhigen Seelen, die durch das
Schicksal oder durch eigene Gewaltthat dem Leben vorzeitig
entrissen sind, oder nicht in feierlicher Bestattung dem Frie-
den des Grabes anvertraut sind 1). An Gespenster, umirrende
Seelen, die um die Stätte ihres Unglücks schweben, sich den
Lebenden unliebsam bemerklich machen, will zwar die Auf-
klärung der Zeit nicht glauben 2). Aber das Volk hat solchen
Berichten, in denen sich das Dasein einer Geisterwelt, die bis-
weilen in das Leben der Lebendigen hinübergreift, unheimlich
offenbar zu machen schien, volles Vertrauen geschenkt, auch
in diesen erleuchteten Zeiten. Aus dem Volksmunde sind uns
einzelne Geschichten von Spukgeistern, umgehenden unseligen
Seelen, vampyrartigen Grabgespenstern 3), erhalten, zumeist
solche, an denen eine verirrte Philosophie, die insaniens sa-
pientia
einer müden Zeit, ihre Ahnungen von einer unsicht-
baren Welt zwischen Himmel und Erde bestätigt fand. In
Lucians "Lügenfreund" setzen graubärtige Weisheitslehrer mit
wichtiger Miene einander solche Nachrichten aus dem Geister-

1) aoroi, biothanatoi, ataphoi. S. oben p. 373 f. -- thaptein kai osioun
te Ge, bezeichnend, Philostr. Heroic. 182, 10 Ks.
2) Plut. Dio 2: nur Kinder und Weiber und thörichte Menschen,
meinte man, sehen Geister, daimona poneron en autois deisidaimonian ekhontes.
Plutarch meint, diese Ungläubigen damit widerlegen zu können, dass doch
selbst Dio und Brutus phasmata kurz vor ihrem Tode gesehen haben.
3) So in der Geschichte von Philinnion und Machates in Amphi-
polis, bei Phlegon mirab. 1. Procl. in Remp. p. 64 Sch. (s. Rhein. Mus.
32, 324 ff.). Vampyrartig sind die Erinyen gedacht bei Aeschylus, Eum.
264 f. (s. oben p. 246, 2) -- Seelen Verstorbener als Alp, ephialtes, incubo,
den Feind bedrückend: Soran, bei Tertull. de an. 44; Coel. Aurel. tard.
pass.
1, 3, 55 (s. Rhein. Mus. 37, 467, 1).

leben der Abgeschiedenen und dessen Bethätigung in dem
regelmässigen Ablauf der Alltäglichkeit nur spärlich Kunde.

Es giebt auch eine unheimlichere Weise des Verkehrs mit
den Seelengeistern. Sie können ungerufen den Lebenden er-
scheinen; sie können durch Zaubers Gewalt gezwungen werden,
im Dienst der Lebendigen ihre Macht zu brauchen. Beides
gilt vornehmlich von den unruhigen Seelen, die durch das
Schicksal oder durch eigene Gewaltthat dem Leben vorzeitig
entrissen sind, oder nicht in feierlicher Bestattung dem Frie-
den des Grabes anvertraut sind 1). An Gespenster, umirrende
Seelen, die um die Stätte ihres Unglücks schweben, sich den
Lebenden unliebsam bemerklich machen, will zwar die Auf-
klärung der Zeit nicht glauben 2). Aber das Volk hat solchen
Berichten, in denen sich das Dasein einer Geisterwelt, die bis-
weilen in das Leben der Lebendigen hinübergreift, unheimlich
offenbar zu machen schien, volles Vertrauen geschenkt, auch
in diesen erleuchteten Zeiten. Aus dem Volksmunde sind uns
einzelne Geschichten von Spukgeistern, umgehenden unseligen
Seelen, vampyrartigen Grabgespenstern 3), erhalten, zumeist
solche, an denen eine verirrte Philosophie, die insaniens sa-
pientia
einer müden Zeit, ihre Ahnungen von einer unsicht-
baren Welt zwischen Himmel und Erde bestätigt fand. In
Lucians „Lügenfreund“ setzen graubärtige Weisheitslehrer mit
wichtiger Miene einander solche Nachrichten aus dem Geister-

1) ἄωροι, βιοϑάνατοι, ἄταφοι. S. oben p. 373 f. — ϑάπτειν καὶ ὁσιοῦν
τῇ Γῇ, bezeichnend, Philostr. Heroic. 182, 10 Ks.
2) Plut. Dio 2: nur Kinder und Weiber und thörichte Menschen,
meinte man, sehen Geister, δαίμονα πονηρὸν ἐν αὑτοῖς δεισιδαιμονίαν ἔχοντες.
Plutarch meint, diese Ungläubigen damit widerlegen zu können, dass doch
selbst Dio und Brutus φάσματα kurz vor ihrem Tode gesehen haben.
3) So in der Geschichte von Philinnion und Machates in Amphi-
polis, bei Phlegon mirab. 1. Procl. in Remp. p. 64 Sch. (s. Rhein. Mus.
32, 324 ff.). Vampyrartig sind die Erinyen gedacht bei Aeschylus, Eum.
264 f. (s. oben p. 246, 2) — Seelen Verstorbener als Alp, ἐφιάλτης, incubo,
den Feind bedrückend: Soran, bei Tertull. de an. 44; Coel. Aurel. tard.
pass.
1, 3, 55 (s. Rhein. Mus. 37, 467, 1).
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[651/0667] leben der Abgeschiedenen und dessen Bethätigung in dem regelmässigen Ablauf der Alltäglichkeit nur spärlich Kunde. Es giebt auch eine unheimlichere Weise des Verkehrs mit den Seelengeistern. Sie können ungerufen den Lebenden er- scheinen; sie können durch Zaubers Gewalt gezwungen werden, im Dienst der Lebendigen ihre Macht zu brauchen. Beides gilt vornehmlich von den unruhigen Seelen, die durch das Schicksal oder durch eigene Gewaltthat dem Leben vorzeitig entrissen sind, oder nicht in feierlicher Bestattung dem Frie- den des Grabes anvertraut sind 1). An Gespenster, umirrende Seelen, die um die Stätte ihres Unglücks schweben, sich den Lebenden unliebsam bemerklich machen, will zwar die Auf- klärung der Zeit nicht glauben 2). Aber das Volk hat solchen Berichten, in denen sich das Dasein einer Geisterwelt, die bis- weilen in das Leben der Lebendigen hinübergreift, unheimlich offenbar zu machen schien, volles Vertrauen geschenkt, auch in diesen erleuchteten Zeiten. Aus dem Volksmunde sind uns einzelne Geschichten von Spukgeistern, umgehenden unseligen Seelen, vampyrartigen Grabgespenstern 3), erhalten, zumeist solche, an denen eine verirrte Philosophie, die insaniens sa- pientia einer müden Zeit, ihre Ahnungen von einer unsicht- baren Welt zwischen Himmel und Erde bestätigt fand. In Lucians „Lügenfreund“ setzen graubärtige Weisheitslehrer mit wichtiger Miene einander solche Nachrichten aus dem Geister- 1) ἄωροι, βιοϑάνατοι, ἄταφοι. S. oben p. 373 f. — ϑάπτειν καὶ ὁσιοῦν τῇ Γῇ, bezeichnend, Philostr. Heroic. 182, 10 Ks. 2) Plut. Dio 2: nur Kinder und Weiber und thörichte Menschen, meinte man, sehen Geister, δαίμονα πονηρὸν ἐν αὑτοῖς δεισιδαιμονίαν ἔχοντες. Plutarch meint, diese Ungläubigen damit widerlegen zu können, dass doch selbst Dio und Brutus φάσματα kurz vor ihrem Tode gesehen haben. 3) So in der Geschichte von Philinnion und Machates in Amphi- polis, bei Phlegon mirab. 1. Procl. in Remp. p. 64 Sch. (s. Rhein. Mus. 32, 324 ff.). Vampyrartig sind die Erinyen gedacht bei Aeschylus, Eum. 264 f. (s. oben p. 246, 2) — Seelen Verstorbener als Alp, ἐφιάλτης, incubo, den Feind bedrückend: Soran, bei Tertull. de an. 44; Coel. Aurel. tard. pass. 1, 3, 55 (s. Rhein. Mus. 37, 467, 1).

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 651. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/667>, abgerufen am 19.05.2024.