höchste Glück der Menschenkinder ist, um so werthvoller wird es ihm. Der Ausbildung, der Befriedigung dieses ihm allein Eigenen darf er sich ganz widmen. Auch im Ethischen gilt der Atomismus: es giebt nur Einzelne, eine im Wesen der Dinge gegründete Gemeinsamkeit der Menschen und gar der Menschheit kennt die Natur nicht 1). In frei gewählter Ge- nossenhaft mag der Einzelne sich dem Einzelnen, als Freund, eng anschliessen; die Staatsgemeinschaften, wie sie die Men- schen erdacht und eingerichtet haben, verpflichten den Weisen nicht. Der Mittelpunkt und eigentlich der ganze Umkreis der Welt, die ihn angeht, liegt in ihm selbst. Staat und Gesell- schaft sind gut und sind vorhanden, um durch ihre schützende Umfassung den freien Eigenwuchs des Einzelnen zu ermög- lichen 2), aber der Einzelne ist nicht für Staat und Gesellschaft da, sondern für sich selbst. "Nicht mehr gilt es, die Hellenen zu retten und zu bewahren, noch im Weisheitswettkampf Kränze von ihnen zu erringen" 3). So redet, mit befreiendem Seufzer, die grosse Müdigkeit, von der eine am Ziel ihrer Entwicklung angelangte Cultur überfallen wird, die sich neue Aufgaben nicht mehr stellt, und es sich leicht macht, wie das Alter darf. Und diese Müdigkeit hat nicht mehr die Hoffnung, aber in aller Aufrichtigkeit auch den Wunsch nicht mehr nach einer Ver- längerung des bewussten Daseins über dieses irdische Leben hinaus. Ruhig heiter sieht sie das Leben, so lieb es war, ent- schwinden, wenn es Abschied nimmt, und lässt sich sinken ins Nichts.
1) ouk esti phusike koinonia tois logikois pros allelous. -- sibi quem- que consulere -- fr. 523. Fernhalten von tais ton plethon arkhais. fr. 554. 552. 9.
2) oi nomoi kharin ton sophon keintai, oukh opos me adikosin, all opos me adikontai. fr. 530.
3) ouketi dei sozein tous Ellenas oud epi sophia stephanon par autois tugkhanein --. Metrodor. fr. 41.
Rohde, Seelencult. 40
höchste Glück der Menschenkinder ist, um so werthvoller wird es ihm. Der Ausbildung, der Befriedigung dieses ihm allein Eigenen darf er sich ganz widmen. Auch im Ethischen gilt der Atomismus: es giebt nur Einzelne, eine im Wesen der Dinge gegründete Gemeinsamkeit der Menschen und gar der Menschheit kennt die Natur nicht 1). In frei gewählter Ge- nossenhaft mag der Einzelne sich dem Einzelnen, als Freund, eng anschliessen; die Staatsgemeinschaften, wie sie die Men- schen erdacht und eingerichtet haben, verpflichten den Weisen nicht. Der Mittelpunkt und eigentlich der ganze Umkreis der Welt, die ihn angeht, liegt in ihm selbst. Staat und Gesell- schaft sind gut und sind vorhanden, um durch ihre schützende Umfassung den freien Eigenwuchs des Einzelnen zu ermög- lichen 2), aber der Einzelne ist nicht für Staat und Gesellschaft da, sondern für sich selbst. „Nicht mehr gilt es, die Hellenen zu retten und zu bewahren, noch im Weisheitswettkampf Kränze von ihnen zu erringen“ 3). So redet, mit befreiendem Seufzer, die grosse Müdigkeit, von der eine am Ziel ihrer Entwicklung angelangte Cultur überfallen wird, die sich neue Aufgaben nicht mehr stellt, und es sich leicht macht, wie das Alter darf. Und diese Müdigkeit hat nicht mehr die Hoffnung, aber in aller Aufrichtigkeit auch den Wunsch nicht mehr nach einer Ver- längerung des bewussten Daseins über dieses irdische Leben hinaus. Ruhig heiter sieht sie das Leben, so lieb es war, ent- schwinden, wenn es Abschied nimmt, und lässt sich sinken ins Nichts.
1) οὐκ ἔστι φυσικὴ κοινωνία τοῖς λογικοῖς πρὸς ἀλλήλους. — sibi quem- que consulere — fr. 523. Fernhalten von ταῖς τῶν πληϑῶν ἀρχαῖς. fr. 554. 552. 9.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0641"n="625"/>
höchste Glück der Menschenkinder ist, um so werthvoller wird<lb/>
es ihm. Der Ausbildung, der Befriedigung dieses ihm allein<lb/>
Eigenen darf er sich ganz widmen. Auch im Ethischen gilt<lb/>
der Atomismus: es giebt nur Einzelne, eine im Wesen der<lb/>
Dinge gegründete Gemeinsamkeit der Menschen und gar der<lb/>
Menschheit kennt die Natur nicht <noteplace="foot"n="1)">οὐκἔστιφυσικὴκοινωνίατοῖςλογικοῖςπρὸςἀλλήλους. —<hirendition="#i">sibi quem-<lb/>
que consulere — fr.</hi> 523. Fernhalten von ταῖςτῶνπληϑῶνἀρχαῖς. <hirendition="#i">fr.</hi><lb/>
554. 552. 9.</note>. In frei gewählter Ge-<lb/>
nossenhaft mag der Einzelne sich dem Einzelnen, als Freund,<lb/>
eng anschliessen; die Staatsgemeinschaften, wie sie die Men-<lb/>
schen erdacht und eingerichtet haben, verpflichten den Weisen<lb/>
nicht. Der Mittelpunkt und eigentlich der ganze Umkreis der<lb/>
Welt, die ihn angeht, liegt in ihm selbst. Staat und Gesell-<lb/>
schaft sind gut und sind vorhanden, um durch ihre schützende<lb/>
Umfassung den freien Eigenwuchs des Einzelnen zu ermög-<lb/>
lichen <noteplace="foot"n="2)">οἱνόμοιχάριντῶνσοφῶνκεῖνται, οὐχὅπωςμὴἀδικῶσιν, ἀλλ̕ὅπως<lb/>μὴἀδικῶνται. <hirendition="#i">fr.</hi> 530.</note>, aber der Einzelne ist nicht für Staat und Gesellschaft<lb/>
da, sondern für sich selbst. „Nicht mehr gilt es, die Hellenen<lb/>
zu retten und zu bewahren, noch im Weisheitswettkampf Kränze<lb/>
von ihnen zu erringen“<noteplace="foot"n="3)">οὐκέτιδεῖσῴζειντοὺςἝλληναςοὐδ̕ἐπὶσοφίᾳστεφάνωνπαρ̕αὐτοῖς<lb/>τυγχάνειν—. Metrodor. <hirendition="#i">fr.</hi> 41.</note>. So redet, mit befreiendem Seufzer,<lb/>
die grosse Müdigkeit, von der eine am Ziel ihrer Entwicklung<lb/>
angelangte Cultur überfallen wird, die sich neue Aufgaben nicht<lb/>
mehr stellt, und es sich leicht macht, wie das Alter darf. Und<lb/>
diese Müdigkeit hat nicht mehr die Hoffnung, aber in aller<lb/>
Aufrichtigkeit auch den Wunsch nicht mehr nach einer Ver-<lb/>
längerung des bewussten Daseins über dieses irdische Leben<lb/>
hinaus. Ruhig heiter sieht sie das Leben, so lieb es war, ent-<lb/>
schwinden, wenn es Abschied nimmt, und lässt sich sinken ins<lb/>
Nichts.</p></div></div><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Rohde,</hi> Seelencult. 40</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[625/0641]
höchste Glück der Menschenkinder ist, um so werthvoller wird
es ihm. Der Ausbildung, der Befriedigung dieses ihm allein
Eigenen darf er sich ganz widmen. Auch im Ethischen gilt
der Atomismus: es giebt nur Einzelne, eine im Wesen der
Dinge gegründete Gemeinsamkeit der Menschen und gar der
Menschheit kennt die Natur nicht 1). In frei gewählter Ge-
nossenhaft mag der Einzelne sich dem Einzelnen, als Freund,
eng anschliessen; die Staatsgemeinschaften, wie sie die Men-
schen erdacht und eingerichtet haben, verpflichten den Weisen
nicht. Der Mittelpunkt und eigentlich der ganze Umkreis der
Welt, die ihn angeht, liegt in ihm selbst. Staat und Gesell-
schaft sind gut und sind vorhanden, um durch ihre schützende
Umfassung den freien Eigenwuchs des Einzelnen zu ermög-
lichen 2), aber der Einzelne ist nicht für Staat und Gesellschaft
da, sondern für sich selbst. „Nicht mehr gilt es, die Hellenen
zu retten und zu bewahren, noch im Weisheitswettkampf Kränze
von ihnen zu erringen“ 3). So redet, mit befreiendem Seufzer,
die grosse Müdigkeit, von der eine am Ziel ihrer Entwicklung
angelangte Cultur überfallen wird, die sich neue Aufgaben nicht
mehr stellt, und es sich leicht macht, wie das Alter darf. Und
diese Müdigkeit hat nicht mehr die Hoffnung, aber in aller
Aufrichtigkeit auch den Wunsch nicht mehr nach einer Ver-
längerung des bewussten Daseins über dieses irdische Leben
hinaus. Ruhig heiter sieht sie das Leben, so lieb es war, ent-
schwinden, wenn es Abschied nimmt, und lässt sich sinken ins
Nichts.
1) οὐκ ἔστι φυσικὴ κοινωνία τοῖς λογικοῖς πρὸς ἀλλήλους. — sibi quem-
que consulere — fr. 523. Fernhalten von ταῖς τῶν πληϑῶν ἀρχαῖς. fr.
554. 552. 9.
2) οἱ νόμοι χάριν τῶν σοφῶν κεῖνται, οὐχ ὅπως μὴ ἀδικῶσιν, ἀλλ̕ ὅπως
μὴ ἀδικῶνται. fr. 530.
3) οὐκέτι δεῖ σῴζειν τοὺς Ἕλληνας οὐδ̕ ἐπὶ σοφίᾳ στεφάνων παρ̕ αὐτοῖς
τυγχάνειν —. Metrodor. fr. 41.
Rohde, Seelencult. 40
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 625. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/641>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.