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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Aber die wahren Wesenheiten sind nicht in dieser Welt
zu finden. Um sie denkend rein zu erfassen, um ungetrübtes
Geistesauge wieder zu werden, muss die Seele der Angst und
Verwirrung des Irdischen sich ganz entschlagen. Für diese,
die Sinne umgaukelnde Erdenwelt hat der Philosoph nur Ver-
neinung. Wahrer Erkenntniss nicht standhaltend, hat das ganze
Gebiet des Werdens für seine Wissenschaft keine selbständige
Bedeutung. Nur als Anreiz und Aufforderung, zu dem Ab-
soluten vorzudringen, dient die Wahrnehmung des immer nur
Relativen, gleichzeitig entgegengesetzte Eigenschaften an sich
Zeigenden 1). Nur dunkle Erinnerungszeichen an das, was sie
einst hell erschaut hatte, findet die Seele in diesem Reiche
trüber Schatten wieder. Die Schönheit dieser Sinnenwelt, von
dem edelsten Sinne, dem Auge, aufgefasst, dient wohl, das
Schöne an und für sich, das hier in entstelltem Abbild sicht-
bar wird, der Seele in's Gedächtniss zu rufen, ihren eigensten
Besitz, den sie aus einem früheren Leben ausserhalb aller
Leiblichkeit fertig herübergebracht hat, ihr selber aufzudecken 2).
Aber die Wahrnehmung der Schönheit hienieden muss alsbald
über sich selbst hinausführen, hoch über die Welt der Er-
scheinung hinaus, zu den reinen Formen des Ideenlandes. Der
Process des Werdens lehrt nichts kennen von dem Seienden,
das in ihm nicht ist, nichts lernt der Denker aus ihm, er ge-
winnt überhaupt in diesem Leben nichts Neues an Wissen und
Weisheit, er kann nur herauffördern, was er vordem besass
und, in latentem Zustand, immer besessen hat 3). Aber dieser

1) Rep. 7, 523 A--524 D.
2) Mehr als alles andre erweckt das kallos in der Erscheinungswelt
die Erinnerung an das einst im Ideenreich Geschaute. Phaedr. 250 B,
250 D ff. Symp. cap. 28 ff. Plato hat hiefür eine besondere Begründung:
in Wahrheit tritt hier der künstlerische Grundtrieb, das aesthetische
Element in der philosophischen Betrachtung und Begeisterung des, seiner
Theorie nach den aistheseis und aller Kunst als Nachbildnerin trügerischer
Nachbilder des allein Wirklichen so feindlich absagenden Denkers, stark
hervor.
3) Nicht mathesis, nur anamnesis. Phaedr. 249 B/C; Meno cap. 14 ff.;
Phaedon cap. 18 ff. (Ueberall steht bei Plato diese Theorie in engster

Aber die wahren Wesenheiten sind nicht in dieser Welt
zu finden. Um sie denkend rein zu erfassen, um ungetrübtes
Geistesauge wieder zu werden, muss die Seele der Angst und
Verwirrung des Irdischen sich ganz entschlagen. Für diese,
die Sinne umgaukelnde Erdenwelt hat der Philosoph nur Ver-
neinung. Wahrer Erkenntniss nicht standhaltend, hat das ganze
Gebiet des Werdens für seine Wissenschaft keine selbständige
Bedeutung. Nur als Anreiz und Aufforderung, zu dem Ab-
soluten vorzudringen, dient die Wahrnehmung des immer nur
Relativen, gleichzeitig entgegengesetzte Eigenschaften an sich
Zeigenden 1). Nur dunkle Erinnerungszeichen an das, was sie
einst hell erschaut hatte, findet die Seele in diesem Reiche
trüber Schatten wieder. Die Schönheit dieser Sinnenwelt, von
dem edelsten Sinne, dem Auge, aufgefasst, dient wohl, das
Schöne an und für sich, das hier in entstelltem Abbild sicht-
bar wird, der Seele in’s Gedächtniss zu rufen, ihren eigensten
Besitz, den sie aus einem früheren Leben ausserhalb aller
Leiblichkeit fertig herübergebracht hat, ihr selber aufzudecken 2).
Aber die Wahrnehmung der Schönheit hienieden muss alsbald
über sich selbst hinausführen, hoch über die Welt der Er-
scheinung hinaus, zu den reinen Formen des Ideenlandes. Der
Process des Werdens lehrt nichts kennen von dem Seienden,
das in ihm nicht ist, nichts lernt der Denker aus ihm, er ge-
winnt überhaupt in diesem Leben nichts Neues an Wissen und
Weisheit, er kann nur herauffördern, was er vordem besass
und, in latentem Zustand, immer besessen hat 3). Aber dieser

1) Rep. 7, 523 A—524 D.
2) Mehr als alles andre erweckt das κάλλος in der Erscheinungswelt
die Erinnerung an das einst im Ideenreich Geschaute. Phaedr. 250 B,
250 D ff. Symp. cap. 28 ff. Plato hat hiefür eine besondere Begründung:
in Wahrheit tritt hier der künstlerische Grundtrieb, das aesthetische
Element in der philosophischen Betrachtung und Begeisterung des, seiner
Theorie nach den αἰσϑήσεις und aller Kunst als Nachbildnerin trügerischer
Nachbilder des allein Wirklichen so feindlich absagenden Denkers, stark
hervor.
3) Nicht μάϑησις, nur ἀνάμνησις. Phaedr. 249 B/C; Meno cap. 14 ff.;
Phaedon cap. 18 ff. (Ueberall steht bei Plato diese Theorie in engster
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[581/0597] Aber die wahren Wesenheiten sind nicht in dieser Welt zu finden. Um sie denkend rein zu erfassen, um ungetrübtes Geistesauge wieder zu werden, muss die Seele der Angst und Verwirrung des Irdischen sich ganz entschlagen. Für diese, die Sinne umgaukelnde Erdenwelt hat der Philosoph nur Ver- neinung. Wahrer Erkenntniss nicht standhaltend, hat das ganze Gebiet des Werdens für seine Wissenschaft keine selbständige Bedeutung. Nur als Anreiz und Aufforderung, zu dem Ab- soluten vorzudringen, dient die Wahrnehmung des immer nur Relativen, gleichzeitig entgegengesetzte Eigenschaften an sich Zeigenden 1). Nur dunkle Erinnerungszeichen an das, was sie einst hell erschaut hatte, findet die Seele in diesem Reiche trüber Schatten wieder. Die Schönheit dieser Sinnenwelt, von dem edelsten Sinne, dem Auge, aufgefasst, dient wohl, das Schöne an und für sich, das hier in entstelltem Abbild sicht- bar wird, der Seele in’s Gedächtniss zu rufen, ihren eigensten Besitz, den sie aus einem früheren Leben ausserhalb aller Leiblichkeit fertig herübergebracht hat, ihr selber aufzudecken 2). Aber die Wahrnehmung der Schönheit hienieden muss alsbald über sich selbst hinausführen, hoch über die Welt der Er- scheinung hinaus, zu den reinen Formen des Ideenlandes. Der Process des Werdens lehrt nichts kennen von dem Seienden, das in ihm nicht ist, nichts lernt der Denker aus ihm, er ge- winnt überhaupt in diesem Leben nichts Neues an Wissen und Weisheit, er kann nur herauffördern, was er vordem besass und, in latentem Zustand, immer besessen hat 3). Aber dieser 1) Rep. 7, 523 A—524 D. 2) Mehr als alles andre erweckt das κάλλος in der Erscheinungswelt die Erinnerung an das einst im Ideenreich Geschaute. Phaedr. 250 B, 250 D ff. Symp. cap. 28 ff. Plato hat hiefür eine besondere Begründung: in Wahrheit tritt hier der künstlerische Grundtrieb, das aesthetische Element in der philosophischen Betrachtung und Begeisterung des, seiner Theorie nach den αἰσϑήσεις und aller Kunst als Nachbildnerin trügerischer Nachbilder des allein Wirklichen so feindlich absagenden Denkers, stark hervor. 3) Nicht μάϑησις, nur ἀνάμνησις. Phaedr. 249 B/C; Meno cap. 14 ff.; Phaedon cap. 18 ff. (Ueberall steht bei Plato diese Theorie in engster

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 581. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/597>, abgerufen am 19.05.2024.