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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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meinen Seele der Welt, der sie verwandt ist 1). Sie ist "älter
als der Leib" 2), mit dem sie sich verbinden muss, mit dessen
Entstehung sie nicht etwa gleichzeitig selbst entsteht, sondern
nur aus ihrem Geisterdasein in das Reich der Materie und des
Werdens gezogen wird. Im "Phaedros" erscheint dieser "Sturz
in die Geburt" als die nothwendige Folge eines intellectuellen
Sündenfalles, der sich in der Seele selbst vollzieht 3). Im
"Timaeos" muss, in der Betrachtung des Gesammtlebens im
Organismus der Welt, auch die Beseelung der lebenden Wesen
aus dem Plane, nicht aus einem Abfall von dem Plane des
Weltbildners erklärt werden 4). Die Seele erscheint dort von

1) Wie das Verhältniss der Einzelseelen zu der Seele des All zu
denken sei, ist weder aus der mythischen Darstellung des "Timaeos" noch
aus der kurzen Bemerkung im Philebos 30 A zu entnehmen, dass die Seele
unsres Leibes "entnommen" sei aus der Seele des soma tou pantos. Die
Fiction einer "Weltseele" dient eben in Wahrheit anderen Zwecken als
dem der Ableitung der Einzelseelen aus einem gemeinsamen Urgrunde.
2) Tim. 34 c. Leg. 10, 891 A--896 C.
3) Die Seele stürzt nach der Darstellung des Phaedon (246 C) her-
unter in die Erdenwelt, wenn o tes kakes ippos, d. i. die epithumia in der
Seele nach der Erde strebt: 247 B. Also in Folge des Ueberwiegens
der begehrenden Triebe. Welches aber nur eintreten kann, weil das
logistikon der Seele zu schwach geworden ist, um den Seelenwagen länger
zu lenken, wie seine Aufgabe war. Daher die tragenden Flügel, d. h.
die noesis, dem Seelenrosse abfallen. Eine Schwächung des erkennenden
Seelentheils ist also der eigentliche Grund ihres Sturzes in die Sinnlich-
keit (wie denn auch je nach dem Maasse der Erkenntnissfähigkeit sich
die Art der ensomatosis der Seelen bestimmt, die Rückkehr zum topos
uperouranios sich ebenfalls nach der Wiedergewinnung reinerer Erkennt-
niss bestimmt: 248 C ff., 249 A. C). Es ist also nicht, wie bei Empedokles
ein religiös-sittliches Vergehen was zur Verkörperung der Seelen führt,
sondern ein Verlust an Intellect, ein intellectueller Sündenfall.
4) Die Seele wird im Timaeos gebildet, damit sie, einen Leib beseelend
und regierend, den Bestand der Schöpfung vollständig mache: ohne die zoa
wäre der ouranos (das Weltall) ateles. Tim. 41 B ff. Nach dieser teleo-
logischen Begründung des Daseins der Seelen und ihrer ensomatosis würde
eben dies, ihre ensomatosis, im ursprünglichen Plane des demiourgos lie-
gen und überhaupt kein Anlass zur Erschaffung der Seelen (durch den
demiourgos und die Untergötter) sein, wenn sie nicht zur Belebung von
zoa und Verbindung mit somata bestimmt wären. Hiernach ist es offen-
bar inconsequent, wenn nun doch die Aufgabe der Seelen sein soll,

meinen Seele der Welt, der sie verwandt ist 1). Sie ist „älter
als der Leib“ 2), mit dem sie sich verbinden muss, mit dessen
Entstehung sie nicht etwa gleichzeitig selbst entsteht, sondern
nur aus ihrem Geisterdasein in das Reich der Materie und des
Werdens gezogen wird. Im „Phaedros“ erscheint dieser „Sturz
in die Geburt“ als die nothwendige Folge eines intellectuellen
Sündenfalles, der sich in der Seele selbst vollzieht 3). Im
„Timaeos“ muss, in der Betrachtung des Gesammtlebens im
Organismus der Welt, auch die Beseelung der lebenden Wesen
aus dem Plane, nicht aus einem Abfall von dem Plane des
Weltbildners erklärt werden 4). Die Seele erscheint dort von

1) Wie das Verhältniss der Einzelseelen zu der Seele des All zu
denken sei, ist weder aus der mythischen Darstellung des „Timaeos“ noch
aus der kurzen Bemerkung im Philebos 30 A zu entnehmen, dass die Seele
unsres Leibes „entnommen“ sei aus der Seele des σῶμα τοῦ παντός. Die
Fiction einer „Weltseele“ dient eben in Wahrheit anderen Zwecken als
dem der Ableitung der Einzelseelen aus einem gemeinsamen Urgrunde.
2) Tim. 34 c. Leg. 10, 891 A—896 C.
3) Die Seele stürzt nach der Darstellung des Phaedon (246 C) her-
unter in die Erdenwelt, wenn ὁ τῆς κάκης ἵππος, d. i. die ἐπιϑυμία in der
Seele nach der Erde strebt: 247 B. Also in Folge des Ueberwiegens
der begehrenden Triebe. Welches aber nur eintreten kann, weil das
λογιστικόν der Seele zu schwach geworden ist, um den Seelenwagen länger
zu lenken, wie seine Aufgabe war. Daher die tragenden Flügel, d. h.
die νόησις, dem Seelenrosse abfallen. Eine Schwächung des erkennenden
Seelentheils ist also der eigentliche Grund ihres Sturzes in die Sinnlich-
keit (wie denn auch je nach dem Maasse der Erkenntnissfähigkeit sich
die Art der ἐνσωμάτωσις der Seelen bestimmt, die Rückkehr zum τόπος
ὑπερουράνιος sich ebenfalls nach der Wiedergewinnung reinerer Erkennt-
niss bestimmt: 248 C ff., 249 A. C). Es ist also nicht, wie bei Empedokles
ein religiös-sittliches Vergehen was zur Verkörperung der Seelen führt,
sondern ein Verlust an Intellect, ein intellectueller Sündenfall.
4) Die Seele wird im Timaeos gebildet, damit sie, einen Leib beseelend
und regierend, den Bestand der Schöpfung vollständig mache: ohne die ζῷα
wäre der οὐρανός (das Weltall) ἀτελής. Tim. 41 B ff. Nach dieser teleo-
logischen Begründung des Daseins der Seelen und ihrer ἐνσωμάτωσις würde
eben dies, ihre ἐνσωμάτωσις, im ursprünglichen Plane des δημιουργός lie-
gen und überhaupt kein Anlass zur Erschaffung der Seelen (durch den
δημιουργός und die Untergötter) sein, wenn sie nicht zur Belebung von
ζῷα und Verbindung mit σώματα bestimmt wären. Hiernach ist es offen-
bar inconsequent, wenn nun doch die Aufgabe der Seelen sein soll,
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[562/0578] meinen Seele der Welt, der sie verwandt ist 1). Sie ist „älter als der Leib“ 2), mit dem sie sich verbinden muss, mit dessen Entstehung sie nicht etwa gleichzeitig selbst entsteht, sondern nur aus ihrem Geisterdasein in das Reich der Materie und des Werdens gezogen wird. Im „Phaedros“ erscheint dieser „Sturz in die Geburt“ als die nothwendige Folge eines intellectuellen Sündenfalles, der sich in der Seele selbst vollzieht 3). Im „Timaeos“ muss, in der Betrachtung des Gesammtlebens im Organismus der Welt, auch die Beseelung der lebenden Wesen aus dem Plane, nicht aus einem Abfall von dem Plane des Weltbildners erklärt werden 4). Die Seele erscheint dort von 1) Wie das Verhältniss der Einzelseelen zu der Seele des All zu denken sei, ist weder aus der mythischen Darstellung des „Timaeos“ noch aus der kurzen Bemerkung im Philebos 30 A zu entnehmen, dass die Seele unsres Leibes „entnommen“ sei aus der Seele des σῶμα τοῦ παντός. Die Fiction einer „Weltseele“ dient eben in Wahrheit anderen Zwecken als dem der Ableitung der Einzelseelen aus einem gemeinsamen Urgrunde. 2) Tim. 34 c. Leg. 10, 891 A—896 C. 3) Die Seele stürzt nach der Darstellung des Phaedon (246 C) her- unter in die Erdenwelt, wenn ὁ τῆς κάκης ἵππος, d. i. die ἐπιϑυμία in der Seele nach der Erde strebt: 247 B. Also in Folge des Ueberwiegens der begehrenden Triebe. Welches aber nur eintreten kann, weil das λογιστικόν der Seele zu schwach geworden ist, um den Seelenwagen länger zu lenken, wie seine Aufgabe war. Daher die tragenden Flügel, d. h. die νόησις, dem Seelenrosse abfallen. Eine Schwächung des erkennenden Seelentheils ist also der eigentliche Grund ihres Sturzes in die Sinnlich- keit (wie denn auch je nach dem Maasse der Erkenntnissfähigkeit sich die Art der ἐνσωμάτωσις der Seelen bestimmt, die Rückkehr zum τόπος ὑπερουράνιος sich ebenfalls nach der Wiedergewinnung reinerer Erkennt- niss bestimmt: 248 C ff., 249 A. C). Es ist also nicht, wie bei Empedokles ein religiös-sittliches Vergehen was zur Verkörperung der Seelen führt, sondern ein Verlust an Intellect, ein intellectueller Sündenfall. 4) Die Seele wird im Timaeos gebildet, damit sie, einen Leib beseelend und regierend, den Bestand der Schöpfung vollständig mache: ohne die ζῷα wäre der οὐρανός (das Weltall) ἀτελής. Tim. 41 B ff. Nach dieser teleo- logischen Begründung des Daseins der Seelen und ihrer ἐνσωμάτωσις würde eben dies, ihre ἐνσωμάτωσις, im ursprünglichen Plane des δημιουργός lie- gen und überhaupt kein Anlass zur Erschaffung der Seelen (durch den δημιουργός und die Untergötter) sein, wenn sie nicht zur Belebung von ζῷα und Verbindung mit σώματα bestimmt wären. Hiernach ist es offen- bar inconsequent, wenn nun doch die Aufgabe der Seelen sein soll,

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 562. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/578>, abgerufen am 19.05.2024.