Hier nun erwuchs dem Dichter die eigenthümlichste Auf- gabe. Was in seinem Drama zu geschehen habe, steht ohne sein Zuthun fest durch den Verlauf der alten Sage (in wenigen Fällen, des geschichtlichen Ereignisses), der ihm den Gang seiner Dichtung vorzeichnet. Die Beseelung der handelnden Gestalten, die Motivirung und Rechtfertigung des Geschehen- den muss sein eigenes Werk sein. Hierbei aber hat er ganz aus dem Eigensten zu schöpfen. Könnte er auch, er dürfte nicht die inneren Beweggründe der Handlung aus der Sinnes- art und dem Vorstellungskreise jener längst entschwundenen Zeit ableiten, die einst den Mythus selbst gestaltet hatte: sie würden den Zuschauern unverständlich bleiben, und sein Werk wäre todtgeboren. Wie aber wird es ihm gelingen, Handlungen, die aus den Voraussetzungen und Forderungen der Sitte und Sittlichkeit einer seit langem überholten Vorzeit entsprungen sind, aus den umgewandelten und anders gewordenen Gedan- ken und Empfindungen der eigenen Zeit glaublich abzuleiten und zu rechtfertigen? Er kann (wenn er nicht überhaupt eine leblose Historie vorbeiziehen lassen will, die ganz im Stofflichen ihrer Vorgänge aufgeht) die, durch den Mythus festgesetzte That und den mit dem Herzen eines Menschen neuerer Zeit empfindenden Thäter, auf dessen Seele jene That gelegt ist, zu einander in das Verhältniss eines unversöhnten Gegensatzes bringen, und so den feinsten und schmerzlichsten tragischen Conflict hervorrufen. Die Regel kann dieses Auseinandertreten von Gesinnung und Handlung, das den Helden -- einen an- deren Hamlet -- und den Dichter in eine polemische Stellung zu dem thatsächlichen Inhalte des Mythus drängt, nicht werden. Der Dichter hat den Geist, der diese harten und finstern Sagen der Vorzeit hervortrieb, so weit er es vermag, in sich aufzunehmen, ohne doch die Sinnesweise der eigenen Zeit zu verleugnen. Es muss ihm gelingen, den vollen ursprüng- lichen Sinn des mythischen Vorgangs bestehen zu lassen, ihn durch die Vermählung mit dem Geiste einer neueren Zeit nicht aufzuheben sondern zu vertiefen. Er ist auf eine
Hier nun erwuchs dem Dichter die eigenthümlichste Auf- gabe. Was in seinem Drama zu geschehen habe, steht ohne sein Zuthun fest durch den Verlauf der alten Sage (in wenigen Fällen, des geschichtlichen Ereignisses), der ihm den Gang seiner Dichtung vorzeichnet. Die Beseelung der handelnden Gestalten, die Motivirung und Rechtfertigung des Geschehen- den muss sein eigenes Werk sein. Hierbei aber hat er ganz aus dem Eigensten zu schöpfen. Könnte er auch, er dürfte nicht die inneren Beweggründe der Handlung aus der Sinnes- art und dem Vorstellungskreise jener längst entschwundenen Zeit ableiten, die einst den Mythus selbst gestaltet hatte: sie würden den Zuschauern unverständlich bleiben, und sein Werk wäre todtgeboren. Wie aber wird es ihm gelingen, Handlungen, die aus den Voraussetzungen und Forderungen der Sitte und Sittlichkeit einer seit langem überholten Vorzeit entsprungen sind, aus den umgewandelten und anders gewordenen Gedan- ken und Empfindungen der eigenen Zeit glaublich abzuleiten und zu rechtfertigen? Er kann (wenn er nicht überhaupt eine leblose Historie vorbeiziehen lassen will, die ganz im Stofflichen ihrer Vorgänge aufgeht) die, durch den Mythus festgesetzte That und den mit dem Herzen eines Menschen neuerer Zeit empfindenden Thäter, auf dessen Seele jene That gelegt ist, zu einander in das Verhältniss eines unversöhnten Gegensatzes bringen, und so den feinsten und schmerzlichsten tragischen Conflict hervorrufen. Die Regel kann dieses Auseinandertreten von Gesinnung und Handlung, das den Helden — einen an- deren Hamlet — und den Dichter in eine polemische Stellung zu dem thatsächlichen Inhalte des Mythus drängt, nicht werden. Der Dichter hat den Geist, der diese harten und finstern Sagen der Vorzeit hervortrieb, so weit er es vermag, in sich aufzunehmen, ohne doch die Sinnesweise der eigenen Zeit zu verleugnen. Es muss ihm gelingen, den vollen ursprüng- lichen Sinn des mythischen Vorgangs bestehen zu lassen, ihn durch die Vermählung mit dem Geiste einer neueren Zeit nicht aufzuheben sondern zu vertiefen. Er ist auf eine
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Hier nun erwuchs dem Dichter die eigenthümlichste Auf-
gabe. Was in seinem Drama zu geschehen habe, steht ohne
sein Zuthun fest durch den Verlauf der alten Sage (in wenigen
Fällen, des geschichtlichen Ereignisses), der ihm den Gang
seiner Dichtung vorzeichnet. Die Beseelung der handelnden
Gestalten, die Motivirung und Rechtfertigung des Geschehen-
den muss sein eigenes Werk sein. Hierbei aber hat er ganz
aus dem Eigensten zu schöpfen. Könnte er auch, er dürfte
nicht die inneren Beweggründe der Handlung aus der Sinnes-
art und dem Vorstellungskreise jener längst entschwundenen
Zeit ableiten, die einst den Mythus selbst gestaltet hatte: sie
würden den Zuschauern unverständlich bleiben, und sein Werk
wäre todtgeboren. Wie aber wird es ihm gelingen, Handlungen,
die aus den Voraussetzungen und Forderungen der Sitte und
Sittlichkeit einer seit langem überholten Vorzeit entsprungen
sind, aus den umgewandelten und anders gewordenen Gedan-
ken und Empfindungen der eigenen Zeit glaublich abzuleiten
und zu rechtfertigen? Er kann (wenn er nicht überhaupt eine
leblose Historie vorbeiziehen lassen will, die ganz im Stofflichen
ihrer Vorgänge aufgeht) die, durch den Mythus festgesetzte
That und den mit dem Herzen eines Menschen neuerer Zeit
empfindenden Thäter, auf dessen Seele jene That gelegt ist,
zu einander in das Verhältniss eines unversöhnten Gegensatzes
bringen, und so den feinsten und schmerzlichsten tragischen
Conflict hervorrufen. Die Regel kann dieses Auseinandertreten
von Gesinnung und Handlung, das den Helden — einen an-
deren Hamlet — und den Dichter in eine polemische Stellung
zu dem thatsächlichen Inhalte des Mythus drängt, nicht werden.
Der Dichter hat den Geist, der diese harten und finstern
Sagen der Vorzeit hervortrieb, so weit er es vermag, in sich
aufzunehmen, ohne doch die Sinnesweise der eigenen Zeit
zu verleugnen. Es muss ihm gelingen, den vollen ursprüng-
lichen Sinn des mythischen Vorgangs bestehen zu lassen, ihn
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/534>, abgerufen am 22.11.2024.
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