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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Vielleicht traf der Dichter dort auch schon solche Spiel-
arten der mystischen Lehre an, in denen orphische Theologie,
ähnlich wie dann in seiner eigenen Auffassung, mit Bestand-
theilen der verbreiteten Mythologie versetzt war. Proben
eines solchen, mit fremden Elementen vermischten orphischen
Mysticismus bieten die Versreihen, die, auf goldenen Täfelchen
eingegraben, vor nicht langer Zeit in Gräbern nahe dem alten
Sybaris gefunden worden sind1). In dreien dieser Gedichte
kehren zu Anfang gleiche Wendungen, die gleichen Grund-
darstellungen aussprechend, wieder; im Fortgang treten sie
nach zwei verschiedenen Richtungen auseinander. Die Seele des
Todten2) redet die Königin der Unterirdischen und die andern
Götter der Tiefe an: ich nahe mich euch, rein, von Reinen ge-
boren3). Sie gehört also einem Sterblichen an, der selbst,
wie schon seine Eltern, in den heiligen Weihen einer Cult-
genossenschaft "gereinigt" war4). Sie rühmt sich selbst, aus

1) Inscr. gr. Sicil. et Ital. 641. -- Die Aufzeichnung des ältesten
dieser Gedichte gehört dem vierten Jahrhundert vor Chr. an. Dennoch
konnten die Verse hier erwähnt werden, weil das Original oder vielmehr
die zwei Originale, denen die Gedichte nachgebildet sind, älter als die
älteste der drei erhaltenen Inschriften (die selbst schon starke Entstellungen
des Urtextes zeigt) waren und wenigstens nichts hindert zu glauben, dass
die Urformen dieser Verse bis ins fünfte Jahrhundert hinaufgingen. --
Das gemeinsame Vorbild der 2. und 3. Fassung ist, auch in den Theilen,
in denen es mit der 1. Fassung übereinstimmt, nicht aus diesem geflossen
sondern aus einer älteren Urform.
2) Das Feminium: erkhomai ek katharon kathara -- und (2, v. 6) nun
d iketis -- freilich metrisch unmöglich -- eko bezieht sich wohl auf die
psukhe, nicht auf das Geschlecht des Todten, so dass dreimal eine Frau
redete. Auch redet ja 1, 9 Persephone wie zu einem Manne; olbie kai
makariste, theos dese anti brotoio.
3) V. 1. erkhomai ek katharon kathara, khthonion basileia. So ist jeden-
falls (mit den Herausgebern) zu interpungiren, nicht (wie Hofmann thut)
-- ek katharon, kathara khth. b. "Rein von Reinen geboren" (von nächster
Abstammung verstanden; fernere würde durch apo bezeichnet werden).
So kakistos kak kakon u. ä. (Nauck zu Soph. O. R. 1397; Phil. 874).
agathoi ex agathon ontes Andoc. myst. 109.
4) katharoi heissen die Eltern, kathara die Seele des Todten selbst
jedenfalls als in teletai der khthonioi "gereinigt, geheiligt". Ebenso sonst
die Mysten osioi d. h. "die Reinen": s. oben p. 265, 2.

Vielleicht traf der Dichter dort auch schon solche Spiel-
arten der mystischen Lehre an, in denen orphische Theologie,
ähnlich wie dann in seiner eigenen Auffassung, mit Bestand-
theilen der verbreiteten Mythologie versetzt war. Proben
eines solchen, mit fremden Elementen vermischten orphischen
Mysticismus bieten die Versreihen, die, auf goldenen Täfelchen
eingegraben, vor nicht langer Zeit in Gräbern nahe dem alten
Sybaris gefunden worden sind1). In dreien dieser Gedichte
kehren zu Anfang gleiche Wendungen, die gleichen Grund-
darstellungen aussprechend, wieder; im Fortgang treten sie
nach zwei verschiedenen Richtungen auseinander. Die Seele des
Todten2) redet die Königin der Unterirdischen und die andern
Götter der Tiefe an: ich nahe mich euch, rein, von Reinen ge-
boren3). Sie gehört also einem Sterblichen an, der selbst,
wie schon seine Eltern, in den heiligen Weihen einer Cult-
genossenschaft „gereinigt“ war4). Sie rühmt sich selbst, aus

1) Inscr. gr. Sicil. et Ital. 641. — Die Aufzeichnung des ältesten
dieser Gedichte gehört dem vierten Jahrhundert vor Chr. an. Dennoch
konnten die Verse hier erwähnt werden, weil das Original oder vielmehr
die zwei Originale, denen die Gedichte nachgebildet sind, älter als die
älteste der drei erhaltenen Inschriften (die selbst schon starke Entstellungen
des Urtextes zeigt) waren und wenigstens nichts hindert zu glauben, dass
die Urformen dieser Verse bis ins fünfte Jahrhundert hinaufgingen. —
Das gemeinsame Vorbild der 2. und 3. Fassung ist, auch in den Theilen,
in denen es mit der 1. Fassung übereinstimmt, nicht aus diesem geflossen
sondern aus einer älteren Urform.
2) Das Feminium: ἔρχομαι ἐκ καϑαρῶν καϑαρά — und (2, v. 6) νῦν
δ̕ ἱκέτις — freilich metrisch unmöglich — ἥκω bezieht sich wohl auf die
ψυχή, nicht auf das Geschlecht des Todten, so dass dreimal eine Frau
redete. Auch redet ja 1, 9 Persephone wie zu einem Manne; ὄλβιε καὶ
μακαριστέ, ϑεὸς δ̕ἔσῃ ἀντὶ βροτοῖο.
3) V. 1. ἔρχομαι ἐκ καϑαρῶν καϑαρά, χϑονίων βασίλεια. So ist jeden-
falls (mit den Herausgebern) zu interpungiren, nicht (wie Hofmann thut)
— ἐκ καϑαρῶν, καϑαρὰ χϑ. β. „Rein von Reinen geboren“ (von nächster
Abstammung verstanden; fernere würde durch ἀπό bezeichnet werden).
So κάκιστος κἀκ κακῶν u. ä. (Nauck zu Soph. O. R. 1397; Phil. 874).
ἀγαϑοὶ ἐξ ἀγαϑῶν ὄντες Andoc. myst. 109.
4) καϑαροί heissen die Eltern, καϑαρά die Seele des Todten selbst
jedenfalls als in τελεταί der χϑόνιοι „gereinigt, geheiligt“. Ebenso sonst
die Mysten ὅσιοι d. h. „die Reinen“: s. oben p. 265, 2.
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[509/0525] Vielleicht traf der Dichter dort auch schon solche Spiel- arten der mystischen Lehre an, in denen orphische Theologie, ähnlich wie dann in seiner eigenen Auffassung, mit Bestand- theilen der verbreiteten Mythologie versetzt war. Proben eines solchen, mit fremden Elementen vermischten orphischen Mysticismus bieten die Versreihen, die, auf goldenen Täfelchen eingegraben, vor nicht langer Zeit in Gräbern nahe dem alten Sybaris gefunden worden sind 1). In dreien dieser Gedichte kehren zu Anfang gleiche Wendungen, die gleichen Grund- darstellungen aussprechend, wieder; im Fortgang treten sie nach zwei verschiedenen Richtungen auseinander. Die Seele des Todten 2) redet die Königin der Unterirdischen und die andern Götter der Tiefe an: ich nahe mich euch, rein, von Reinen ge- boren 3). Sie gehört also einem Sterblichen an, der selbst, wie schon seine Eltern, in den heiligen Weihen einer Cult- genossenschaft „gereinigt“ war 4). Sie rühmt sich selbst, aus 1) Inscr. gr. Sicil. et Ital. 641. — Die Aufzeichnung des ältesten dieser Gedichte gehört dem vierten Jahrhundert vor Chr. an. Dennoch konnten die Verse hier erwähnt werden, weil das Original oder vielmehr die zwei Originale, denen die Gedichte nachgebildet sind, älter als die älteste der drei erhaltenen Inschriften (die selbst schon starke Entstellungen des Urtextes zeigt) waren und wenigstens nichts hindert zu glauben, dass die Urformen dieser Verse bis ins fünfte Jahrhundert hinaufgingen. — Das gemeinsame Vorbild der 2. und 3. Fassung ist, auch in den Theilen, in denen es mit der 1. Fassung übereinstimmt, nicht aus diesem geflossen sondern aus einer älteren Urform. 2) Das Feminium: ἔρχομαι ἐκ καϑαρῶν καϑαρά — und (2, v. 6) νῦν δ̕ ἱκέτις — freilich metrisch unmöglich — ἥκω bezieht sich wohl auf die ψυχή, nicht auf das Geschlecht des Todten, so dass dreimal eine Frau redete. Auch redet ja 1, 9 Persephone wie zu einem Manne; ὄλβιε καὶ μακαριστέ, ϑεὸς δ̕ἔσῃ ἀντὶ βροτοῖο. 3) V. 1. ἔρχομαι ἐκ καϑαρῶν καϑαρά, χϑονίων βασίλεια. So ist jeden- falls (mit den Herausgebern) zu interpungiren, nicht (wie Hofmann thut) — ἐκ καϑαρῶν, καϑαρὰ χϑ. β. „Rein von Reinen geboren“ (von nächster Abstammung verstanden; fernere würde durch ἀπό bezeichnet werden). So κάκιστος κἀκ κακῶν u. ä. (Nauck zu Soph. O. R. 1397; Phil. 874). ἀγαϑοὶ ἐξ ἀγαϑῶν ὄντες Andoc. myst. 109. 4) καϑαροί heissen die Eltern, καϑαρά die Seele des Todten selbst jedenfalls als in τελεταί der χϑόνιοι „gereinigt, geheiligt“. Ebenso sonst die Mysten ὅσιοι d. h. „die Reinen“: s. oben p. 265, 2.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 509. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/525>, abgerufen am 20.05.2024.