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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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dauer individuell für sich bestehender Seelen nach dem Zer-
fall der stofflichen Bildungen, in denen bewegende und belebende
Seelenkraft gewohnt hatte, nicht reden konnte. Es wird ihm
ausdrücklich die Meinung zugeschrieben, dass die Scheidung
vom Leibe auch "der Seele Tod" sei 1). Zwar es vergeht nichts
von den Bestandtheilen des Alls, es verwandelt auch nichts
seine Natur, und so erhält sich der "Geist", dessen Erschei-
nungsform die "Seele" war, unverändert und unvermindert,
aber nach der Scheidung des Vereinigten, die "den Hellenen"
als dessen Vernichtung erscheint 2), bleiben wohl die Bestand-
theile des Einzelwesens, aber nicht mehr diese Mischung in der
das besondere Wesen des Einzelnen lag; es bleibt der "Geist",
aber nicht die Seele. --

Die erste bestimmte Abtrennung eines Geistigen, Denken-
den von der Materie, mit der es nicht verschmolzen, noch
weniger identisch sein, dem es vielmehr selbständig und be-
herrschend gegenüberstehen soll, führte nicht zur Anerkennung
der Unvergänglichkeit des individuellen Geistes.

Ob dem Materiellen und Körperlichen gegenübergestellt,

1) Plat. plac. phil. 5, 25, 2, in dem Capitel: poterou estin upnos kai
thanatos, psukhes e somatos; Anaxagoras lehre: einai de kai psukhes thanaton
ton diakhorismon. Die Worte können, schon wegen des Themas des ganzen
Capitels, nichts andres bedeuten als: es bestehe aber (wie des Körpers
so) auch der Seele Tod in ihrer Trennung (vom Leibe): ton diakh. ist
Subject, einai tes ps. thanaton Prädicat (nicht umgekehrt, wie Siebeck,
Gesch. d. Psychol. 1, 268 f. zu deuten scheint). Zu der gewaltthätigen Ver-
änderung Wyttenbachs (de immortalitate animi), Opusc. II 507 f.: einai
de kai ton thanaton psukhes diakhorismon kai somatos liegt nicht die geringste
Berechtigung vor. Für eine solche Bestätigung der populären Auffassung
des Todes (weiter wäre es ja nichts) gerade den Anaxagoras aufzurufen,
hätte überhaupt kein Grund bestanden; an dieser Stelle kann aber eine
solche Definition des Todes erst recht nicht gestanden haben, da ja im
Thema des Capitels nur gefragt ist, ob der Tod sich auch auf die Seele
erstrecke, nicht was er sei. Unter psukhe wird hier die Einzelseele ver-
standen, nicht der nous als der Grund der Einzelseelen. Die Einzelseele
liess A. mit dem Tode untergehn; das ist gewiss. Ob die Placita auf
einen bestimmten Ausspruch des A. sich beziehen oder nur die Con-
sequenz seiner Lehren ziehen, ist freilich unmöglich zu bestimmen.
2) fr. 17.

dauer individuell für sich bestehender Seelen nach dem Zer-
fall der stofflichen Bildungen, in denen bewegende und belebende
Seelenkraft gewohnt hatte, nicht reden konnte. Es wird ihm
ausdrücklich die Meinung zugeschrieben, dass die Scheidung
vom Leibe auch „der Seele Tod“ sei 1). Zwar es vergeht nichts
von den Bestandtheilen des Alls, es verwandelt auch nichts
seine Natur, und so erhält sich der „Geist“, dessen Erschei-
nungsform die „Seele“ war, unverändert und unvermindert,
aber nach der Scheidung des Vereinigten, die „den Hellenen“
als dessen Vernichtung erscheint 2), bleiben wohl die Bestand-
theile des Einzelwesens, aber nicht mehr diese Mischung in der
das besondere Wesen des Einzelnen lag; es bleibt der „Geist“,
aber nicht die Seele. —

Die erste bestimmte Abtrennung eines Geistigen, Denken-
den von der Materie, mit der es nicht verschmolzen, noch
weniger identisch sein, dem es vielmehr selbständig und be-
herrschend gegenüberstehen soll, führte nicht zur Anerkennung
der Unvergänglichkeit des individuellen Geistes.

Ob dem Materiellen und Körperlichen gegenübergestellt,

1) Plat. plac. phil. 5, 25, 2, in dem Capitel: ποτέροϋ ἐστὶν ὕπνος καὶ
ϑάνατος, ψυχῆς ἢ σώματος; Anaxagoras lehre: εἶναι δὲ καὶ ψυχῆς ϑάνατον
τὸν διαχωρισμόν. Die Worte können, schon wegen des Themas des ganzen
Capitels, nichts andres bedeuten als: es bestehe aber (wie des Körpers
so) auch der Seele Tod in ihrer Trennung (vom Leibe): τὸν διαχ. ist
Subject, εἶναι τῆς ψ. ϑάνατον Prädicat (nicht umgekehrt, wie Siebeck,
Gesch. d. Psychol. 1, 268 f. zu deuten scheint). Zu der gewaltthätigen Ver-
änderung Wyttenbachs (de immortalitate animi), Opusc. II 507 f.: εἶναι
δὲ καὶ τὸν ϑάνατον ψυχῆς διαχωρισμὸν καὶ σώματος liegt nicht die geringste
Berechtigung vor. Für eine solche Bestätigung der populären Auffassung
des Todes (weiter wäre es ja nichts) gerade den Anaxagoras aufzurufen,
hätte überhaupt kein Grund bestanden; an dieser Stelle kann aber eine
solche Definition des Todes erst recht nicht gestanden haben, da ja im
Thema des Capitels nur gefragt ist, ob der Tod sich auch auf die Seele
erstrecke, nicht was er sei. Unter ψυχή wird hier die Einzelseele ver-
standen, nicht der νοῦς als der Grund der Einzelseelen. Die Einzelseele
liess A. mit dem Tode untergehn; das ist gewiss. Ob die Placita auf
einen bestimmten Ausspruch des A. sich beziehen oder nur die Con-
sequenz seiner Lehren ziehen, ist freilich unmöglich zu bestimmen.
2) fr. 17.
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[488/0504] dauer individuell für sich bestehender Seelen nach dem Zer- fall der stofflichen Bildungen, in denen bewegende und belebende Seelenkraft gewohnt hatte, nicht reden konnte. Es wird ihm ausdrücklich die Meinung zugeschrieben, dass die Scheidung vom Leibe auch „der Seele Tod“ sei 1). Zwar es vergeht nichts von den Bestandtheilen des Alls, es verwandelt auch nichts seine Natur, und so erhält sich der „Geist“, dessen Erschei- nungsform die „Seele“ war, unverändert und unvermindert, aber nach der Scheidung des Vereinigten, die „den Hellenen“ als dessen Vernichtung erscheint 2), bleiben wohl die Bestand- theile des Einzelwesens, aber nicht mehr diese Mischung in der das besondere Wesen des Einzelnen lag; es bleibt der „Geist“, aber nicht die Seele. — Die erste bestimmte Abtrennung eines Geistigen, Denken- den von der Materie, mit der es nicht verschmolzen, noch weniger identisch sein, dem es vielmehr selbständig und be- herrschend gegenüberstehen soll, führte nicht zur Anerkennung der Unvergänglichkeit des individuellen Geistes. Ob dem Materiellen und Körperlichen gegenübergestellt, 1) Plat. plac. phil. 5, 25, 2, in dem Capitel: ποτέροϋ ἐστὶν ὕπνος καὶ ϑάνατος, ψυχῆς ἢ σώματος; Anaxagoras lehre: εἶναι δὲ καὶ ψυχῆς ϑάνατον τὸν διαχωρισμόν. Die Worte können, schon wegen des Themas des ganzen Capitels, nichts andres bedeuten als: es bestehe aber (wie des Körpers so) auch der Seele Tod in ihrer Trennung (vom Leibe): τὸν διαχ. ist Subject, εἶναι τῆς ψ. ϑάνατον Prädicat (nicht umgekehrt, wie Siebeck, Gesch. d. Psychol. 1, 268 f. zu deuten scheint). Zu der gewaltthätigen Ver- änderung Wyttenbachs (de immortalitate animi), Opusc. II 507 f.: εἶναι δὲ καὶ τὸν ϑάνατον ψυχῆς διαχωρισμὸν καὶ σώματος liegt nicht die geringste Berechtigung vor. Für eine solche Bestätigung der populären Auffassung des Todes (weiter wäre es ja nichts) gerade den Anaxagoras aufzurufen, hätte überhaupt kein Grund bestanden; an dieser Stelle kann aber eine solche Definition des Todes erst recht nicht gestanden haben, da ja im Thema des Capitels nur gefragt ist, ob der Tod sich auch auf die Seele erstrecke, nicht was er sei. Unter ψυχή wird hier die Einzelseele ver- standen, nicht der νοῦς als der Grund der Einzelseelen. Die Einzelseele liess A. mit dem Tode untergehn; das ist gewiss. Ob die Placita auf einen bestimmten Ausspruch des A. sich beziehen oder nur die Con- sequenz seiner Lehren ziehen, ist freilich unmöglich zu bestimmen. 2) fr. 17.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/504>, abgerufen am 22.11.2024.