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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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"Seele" die ihn bewegt, unzertrennlich dachte, von einer "Un-
sterblichkeit" der menschlichen Seele in keinem anderen Sinne
geredet haben, als er auch von Unsterblichkeit aller Seelen-
kräfte der Natur hätte reden können. Wie der Urstoff, der
aus eigener Lebendigkeit wirkt und schafft, so ist die All-
kraft, die ihn erfüllt 1), unvergänglich, unverlierbar, wie sie un-
geworden ist. Sie ist ganz Leben, und kann niemals "ge-
storben" sein.

Von dem "Unbestimmten", aus dem alle Dinge sich durch
Ausscheidung entwickelt haben, das alles umfasst und lenkt,
sagt Anaximander, dass es nicht altere, unsterblich sei und
unvergänglich 2). Von der menschlichen Seele als Sonderwesen
kann dies nicht gelten sollen; denn wie alle Einzelbildungen
aus dem "Unbestimmten" muss "nach der Ordnung der Zeit"
auch sie das "Unrecht" ihres Einzeldaseins büssen 3) und in
dem Einen Urstoff sich wieder verlieren.

Nicht in anderem Sinne als Thales hätte der Dritte in
dieser Reihe, Anaximenes von Milet, die Seele "unsterblich"
nennen können, die ihm wesensgleich ist 4) mit dem göttlichen 5),
ewig bewegten, alles aus sich erzeugenden Urelement der Luft.

1) Bildlich: Thales oethe panta plere theon einai. Aristot. de an.
1, 5; p. 411 a, 8. ton kosmon (empsukhon kai) daimonon plere, Laert. 1, 27.
Doxogr. 301 b, 2. Anspielung auf das theon plere panta (wie Krische,
Theol. Lehren der gr. Denker p. 37 bemerkt) bei Plato, Leg. 10, 899 B.
Halb scherzhafte Anspielung auf das Wort des Thales liegt vielleicht
in dem anekdotisch überlieferten Worte des Heraklit: einai kai entautha
-- an seinem Heerde -- theous (Aristot. part. anim. 1, 5 p. 645 a, 17 ff.
Daher auch dem H. selbst etwas verändert die Meinung des Thales zu-
geschrieben wird: panta psukhon einai kai daimonon plere: Laert. Diog. 9, 7
in der werthlosen ersten der zwei dort mitgetheilten Dogmenaufzählungen).
2) Aristot. Phys. 3, 4 p. 203 b, 10--14. Doxogr. 559, 18.
3) Anaximand. fr. 2 (Mull.). -- Dass Anaximander die Seele für "luft-
artig" erklärt habe, ist eine irrthümliche Behauptung des Theodoret.
S. Diels, Doxogr. 387 b, 10.
4) Anax. in Doxogr. 278 a, 12 ff.; b, 8 ff.
5) Anaximenes nennt ton aera theon, d. h. göttliche Kraft: Doxogr.
302 b, 5; 531 a, 17, b, 1. 2. Das ist jedenfalls in dem gleichen Sinne zu ver-
stehn, wie nach Anaximander to apeiron sein soll to theion (Aristot. Phys. 3,
4 p. 203 b, 13).

„Seele“ die ihn bewegt, unzertrennlich dachte, von einer „Un-
sterblichkeit“ der menschlichen Seele in keinem anderen Sinne
geredet haben, als er auch von Unsterblichkeit aller Seelen-
kräfte der Natur hätte reden können. Wie der Urstoff, der
aus eigener Lebendigkeit wirkt und schafft, so ist die All-
kraft, die ihn erfüllt 1), unvergänglich, unverlierbar, wie sie un-
geworden ist. Sie ist ganz Leben, und kann niemals „ge-
storben“ sein.

Von dem „Unbestimmten“, aus dem alle Dinge sich durch
Ausscheidung entwickelt haben, das alles umfasst und lenkt,
sagt Anaximander, dass es nicht altere, unsterblich sei und
unvergänglich 2). Von der menschlichen Seele als Sonderwesen
kann dies nicht gelten sollen; denn wie alle Einzelbildungen
aus dem „Unbestimmten“ muss „nach der Ordnung der Zeit“
auch sie das „Unrecht“ ihres Einzeldaseins büssen 3) und in
dem Einen Urstoff sich wieder verlieren.

Nicht in anderem Sinne als Thales hätte der Dritte in
dieser Reihe, Anaximenes von Milet, die Seele „unsterblich“
nennen können, die ihm wesensgleich ist 4) mit dem göttlichen 5),
ewig bewegten, alles aus sich erzeugenden Urelement der Luft.

1) Bildlich: Θαλῆς ᾠήϑη πάντα πλήρη ϑεῶν εἶναι. Aristot. de an.
1, 5; p. 411 a, 8. τὸν κόσμον (ἔμψυχον καὶ) δαιμόνων πλήρη, Laert. 1, 27.
Doxogr. 301 b, 2. Anspielung auf das ϑεῶν πλήρη πάντα (wie Krische,
Theol. Lehren der gr. Denker p. 37 bemerkt) bei Plato, Leg. 10, 899 B.
Halb scherzhafte Anspielung auf das Wort des Thales liegt vielleicht
in dem anekdotisch überlieferten Worte des Heraklit: εἶναι καὶ ἐνταῦϑα
— an seinem Heerde — ϑεούς (Aristot. part. anim. 1, 5 p. 645 a, 17 ff.
Daher auch dem H. selbst etwas verändert die Meinung des Thales zu-
geschrieben wird: πάντα ψυχῶν εἶναι καὶ δαιμόνων πλήρη: Laert. Diog. 9, 7
in der werthlosen ersten der zwei dort mitgetheilten Dogmenaufzählungen).
2) Aristot. Phys. 3, 4 p. 203 b, 10—14. Doxogr. 559, 18.
3) Anaximand. fr. 2 (Mull.). — Dass Anaximander die Seele für „luft-
artig“ erklärt habe, ist eine irrthümliche Behauptung des Theodoret.
S. Diels, Doxogr. 387 b, 10.
4) Anax. in Doxogr. 278 a, 12 ff.; b, 8 ff.
5) Anaximenes nennt τὸν ἀέρα ϑεόν, d. h. göttliche Kraft: Doxogr.
302 b, 5; 531 a, 17, b, 1. 2. Das ist jedenfalls in dem gleichen Sinne zu ver-
stehn, wie nach Anaximander τὸ ἄπειρον sein soll τὸ ϑεῖον (Aristot. Phys. 3,
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[436/0452] „Seele“ die ihn bewegt, unzertrennlich dachte, von einer „Un- sterblichkeit“ der menschlichen Seele in keinem anderen Sinne geredet haben, als er auch von Unsterblichkeit aller Seelen- kräfte der Natur hätte reden können. Wie der Urstoff, der aus eigener Lebendigkeit wirkt und schafft, so ist die All- kraft, die ihn erfüllt 1), unvergänglich, unverlierbar, wie sie un- geworden ist. Sie ist ganz Leben, und kann niemals „ge- storben“ sein. Von dem „Unbestimmten“, aus dem alle Dinge sich durch Ausscheidung entwickelt haben, das alles umfasst und lenkt, sagt Anaximander, dass es nicht altere, unsterblich sei und unvergänglich 2). Von der menschlichen Seele als Sonderwesen kann dies nicht gelten sollen; denn wie alle Einzelbildungen aus dem „Unbestimmten“ muss „nach der Ordnung der Zeit“ auch sie das „Unrecht“ ihres Einzeldaseins büssen 3) und in dem Einen Urstoff sich wieder verlieren. Nicht in anderem Sinne als Thales hätte der Dritte in dieser Reihe, Anaximenes von Milet, die Seele „unsterblich“ nennen können, die ihm wesensgleich ist 4) mit dem göttlichen 5), ewig bewegten, alles aus sich erzeugenden Urelement der Luft. 1) Bildlich: Θαλῆς ᾠήϑη πάντα πλήρη ϑεῶν εἶναι. Aristot. de an. 1, 5; p. 411 a, 8. τὸν κόσμον (ἔμψυχον καὶ) δαιμόνων πλήρη, Laert. 1, 27. Doxogr. 301 b, 2. Anspielung auf das ϑεῶν πλήρη πάντα (wie Krische, Theol. Lehren der gr. Denker p. 37 bemerkt) bei Plato, Leg. 10, 899 B. Halb scherzhafte Anspielung auf das Wort des Thales liegt vielleicht in dem anekdotisch überlieferten Worte des Heraklit: εἶναι καὶ ἐνταῦϑα — an seinem Heerde — ϑεούς (Aristot. part. anim. 1, 5 p. 645 a, 17 ff. Daher auch dem H. selbst etwas verändert die Meinung des Thales zu- geschrieben wird: πάντα ψυχῶν εἶναι καὶ δαιμόνων πλήρη: Laert. Diog. 9, 7 in der werthlosen ersten der zwei dort mitgetheilten Dogmenaufzählungen). 2) Aristot. Phys. 3, 4 p. 203 b, 10—14. Doxogr. 559, 18. 3) Anaximand. fr. 2 (Mull.). — Dass Anaximander die Seele für „luft- artig“ erklärt habe, ist eine irrthümliche Behauptung des Theodoret. S. Diels, Doxogr. 387 b, 10. 4) Anax. in Doxogr. 278 a, 12 ff.; b, 8 ff. 5) Anaximenes nennt τὸν ἀέρα ϑεόν, d. h. göttliche Kraft: Doxogr. 302 b, 5; 531 a, 17, b, 1. 2. Das ist jedenfalls in dem gleichen Sinne zu ver- stehn, wie nach Anaximander τὸ ἄπειρον sein soll τὸ ϑεῖον (Aristot. Phys. 3, 4 p. 203 b, 13).

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/452>, abgerufen am 16.06.2024.