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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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religion um sich sammeln mochten. Die Philosophie hat (von
einzelnen besonders gearteten Fällen abgesehen) den offenen
Kampf mit der Religion nicht gesucht, auch nicht etwa die
überwundene Religion in den Ueberzeugungen grosser Massen
abgelöst. Ja, das Nebeneinander von Philosophie und Religion,
selbst Theologie, erstreckte sich in manchen Fällen aus dem
thatsächlichen äusseren Leben bis in die abgeschlossene Ge-
dankenwelt des einzelnen Forschers. Es konnte scheinen, dass
Philosophie und religiöser Glaube Verschiedenes zwar, aber
eben auch aus verschiedenen Reichen des Daseins berichteten;
und auch ernstlich philosophisch Gesinnte konnten in aller
Ehrlichkeit glauben, der Philosophie nicht untreu zu werden,
wenn sie aus dem Glauben der Väter einzelne, selbst grund-
legende Vorstellungen entlehnten, um sie friedlich neben den
philosophischen Eigenmeinungen anzupflanzen.

2.

Was die ionischen Philosophen im Zusammenhang ihrer
kosmologischen Betrachtungen über die menschliche Seele zu
sagen hatten, brachte sie, so neu und erstaunlich es auch war,
nicht unmittelbar in Gegensatz und Streit mit der religiösen Mei-
nung. Mit denselben Worten bezeichneten philosophische und
religiöse Ansicht ganz verschiedene Begriffe; es war nur natür-
lich, wenn von dem Verschiedenen Verschiedenes ausgesagt wurde.

Die volksthümliche Vorstellung, der die homerische Dich-
tung Ausdruck giebt, und mit welcher, bei allem Unterschied
in der Werthabschätzung von Seele und Leib, auch die religiöse
Theorie der Orphiker und anderer Theologen übereinstimmt,
kannte und bezeichnete als "Psyche" ein geistig-körperliches
Eigenwesen das, woher immer gekommen, im Inneren des
lebendigen Menschen Wohnung genommen hatte, dort als
dessen zweites Ich sein besonderes Leben führte, von dem es
Kunde gab, wenn dem sichtbaren Ich das Bewusstsein ge-
schwunden war, im Traum, in der Ohnmacht, in der Ekstase 1).

1) S. oben p. 6 ff.

religion um sich sammeln mochten. Die Philosophie hat (von
einzelnen besonders gearteten Fällen abgesehen) den offenen
Kampf mit der Religion nicht gesucht, auch nicht etwa die
überwundene Religion in den Ueberzeugungen grosser Massen
abgelöst. Ja, das Nebeneinander von Philosophie und Religion,
selbst Theologie, erstreckte sich in manchen Fällen aus dem
thatsächlichen äusseren Leben bis in die abgeschlossene Ge-
dankenwelt des einzelnen Forschers. Es konnte scheinen, dass
Philosophie und religiöser Glaube Verschiedenes zwar, aber
eben auch aus verschiedenen Reichen des Daseins berichteten;
und auch ernstlich philosophisch Gesinnte konnten in aller
Ehrlichkeit glauben, der Philosophie nicht untreu zu werden,
wenn sie aus dem Glauben der Väter einzelne, selbst grund-
legende Vorstellungen entlehnten, um sie friedlich neben den
philosophischen Eigenmeinungen anzupflanzen.

2.

Was die ionischen Philosophen im Zusammenhang ihrer
kosmologischen Betrachtungen über die menschliche Seele zu
sagen hatten, brachte sie, so neu und erstaunlich es auch war,
nicht unmittelbar in Gegensatz und Streit mit der religiösen Mei-
nung. Mit denselben Worten bezeichneten philosophische und
religiöse Ansicht ganz verschiedene Begriffe; es war nur natür-
lich, wenn von dem Verschiedenen Verschiedenes ausgesagt wurde.

Die volksthümliche Vorstellung, der die homerische Dich-
tung Ausdruck giebt, und mit welcher, bei allem Unterschied
in der Werthabschätzung von Seele und Leib, auch die religiöse
Theorie der Orphiker und anderer Theologen übereinstimmt,
kannte und bezeichnete als „Psyche“ ein geistig-körperliches
Eigenwesen das, woher immer gekommen, im Inneren des
lebendigen Menschen Wohnung genommen hatte, dort als
dessen zweites Ich sein besonderes Leben führte, von dem es
Kunde gab, wenn dem sichtbaren Ich das Bewusstsein ge-
schwunden war, im Traum, in der Ohnmacht, in der Ekstase 1).

1) S. oben p. 6 ff.
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[431/0447] religion um sich sammeln mochten. Die Philosophie hat (von einzelnen besonders gearteten Fällen abgesehen) den offenen Kampf mit der Religion nicht gesucht, auch nicht etwa die überwundene Religion in den Ueberzeugungen grosser Massen abgelöst. Ja, das Nebeneinander von Philosophie und Religion, selbst Theologie, erstreckte sich in manchen Fällen aus dem thatsächlichen äusseren Leben bis in die abgeschlossene Ge- dankenwelt des einzelnen Forschers. Es konnte scheinen, dass Philosophie und religiöser Glaube Verschiedenes zwar, aber eben auch aus verschiedenen Reichen des Daseins berichteten; und auch ernstlich philosophisch Gesinnte konnten in aller Ehrlichkeit glauben, der Philosophie nicht untreu zu werden, wenn sie aus dem Glauben der Väter einzelne, selbst grund- legende Vorstellungen entlehnten, um sie friedlich neben den philosophischen Eigenmeinungen anzupflanzen. 2. Was die ionischen Philosophen im Zusammenhang ihrer kosmologischen Betrachtungen über die menschliche Seele zu sagen hatten, brachte sie, so neu und erstaunlich es auch war, nicht unmittelbar in Gegensatz und Streit mit der religiösen Mei- nung. Mit denselben Worten bezeichneten philosophische und religiöse Ansicht ganz verschiedene Begriffe; es war nur natür- lich, wenn von dem Verschiedenen Verschiedenes ausgesagt wurde. Die volksthümliche Vorstellung, der die homerische Dich- tung Ausdruck giebt, und mit welcher, bei allem Unterschied in der Werthabschätzung von Seele und Leib, auch die religiöse Theorie der Orphiker und anderer Theologen übereinstimmt, kannte und bezeichnete als „Psyche“ ein geistig-körperliches Eigenwesen das, woher immer gekommen, im Inneren des lebendigen Menschen Wohnung genommen hatte, dort als dessen zweites Ich sein besonderes Leben führte, von dem es Kunde gab, wenn dem sichtbaren Ich das Bewusstsein ge- schwunden war, im Traum, in der Ohnmacht, in der Ekstase 1). 1) S. oben p. 6 ff.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/447>, abgerufen am 22.11.2024.