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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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endlosen Qualenweg erlösen. Nicht eigener Kraft, der Gnade
"erlösender Götter" soll der Mensch seine Befreiung ver-
danken 1). Der Selbstverlass des alten Griechenthums ist hier
gebrochen; schwachmüthig sieht der Fromme nach fremder
Hilfe aus; es bedarf der Offenbarungen und Vermittlungen
"Orpheus des Gebieters" 2), um den Weg zum Heil zu finden,
und ängstlicher Beachtung seiner Heilsordnung, damit man ihn
gehen könne.

Nicht die heiligen Orgien allein, wie sie Orpheus geordnet
hat, bereiten die Erlösung vor, ein ganzes "orphisches Leben" 3)
muss sich aus ihnen entwickeln. Die Askese ist die Grund-
bedingung des frommen Lebens. Sie fordert nicht Uebung
bürgerlicher Tugenden, nicht Zucht und sittliche Umbildung
des Charakters ist nothwendig; die Summe der Moral ist hier
Hinwendung zum Gotte 4), Abkehr von allem, was in die Sterb-
lichkeit und das Leibesleben verstrickt. Der grimmige Ernst
freilich, mit dem die Büsser Indiens den eigenen Willen vom
Leben abreissen, an das er mit klammernden Organen sich
festhält, fand unter Griechen, dem Volke des Lebens, auch
bei weltverneinenden Asketen keine Stelle. Die Verschmähung
der Fleischnahrung war die stärkste und auffallendste Enthal-
tung der orphischen Asketen 5). Im Uebrigen hielten sie sich
im wesentlichen rein von solchen Dingen und Verhältnissen,
die das Hangen an der Welt des Todes und der Vergänglich-

1) fr. 208. 226. Dionusos luseus, lusios, theoi lusioi. S. Lobeck 809 f.
Vgl. auch fr. 311 (Ficin.).
2) Orphea t anakt ekhon bakkheue -- Eurip. Hippol. 950 (anax, nicht
despotes: v. 87).
3) Orphikos bios. Plat. Leg. 6, 782 C. S. Lobeck 244 ff.
4) Das Pythagoreische epou theo, akolouthein to theo (Jamblich. V. P.
137 aus Aristoxenus) könnte man auch den Orphikern zum Wahlspruch
geben.
5) apsukhos bora der Orphiker: Eurip. Hippol. 951. Plat. Leg. 6, 782 C. D.
Vgl. Lobeck p. 246. So ist auch zu verstehen Arist. Ran. 1032: Orpheus
men gar teletas themin katedeixe phonon (d. h. der Nahrung von getödteten
Thieren) tapekhesthai. Missgedeutet bei Horat. A. P. 391 f.: silvestris
homines-caedibus et victu foedo deterruit Orpheus.

endlosen Qualenweg erlösen. Nicht eigener Kraft, der Gnade
„erlösender Götter“ soll der Mensch seine Befreiung ver-
danken 1). Der Selbstverlass des alten Griechenthums ist hier
gebrochen; schwachmüthig sieht der Fromme nach fremder
Hilfe aus; es bedarf der Offenbarungen und Vermittlungen
„Orpheus des Gebieters“ 2), um den Weg zum Heil zu finden,
und ängstlicher Beachtung seiner Heilsordnung, damit man ihn
gehen könne.

Nicht die heiligen Orgien allein, wie sie Orpheus geordnet
hat, bereiten die Erlösung vor, ein ganzes „orphisches Leben“ 3)
muss sich aus ihnen entwickeln. Die Askese ist die Grund-
bedingung des frommen Lebens. Sie fordert nicht Uebung
bürgerlicher Tugenden, nicht Zucht und sittliche Umbildung
des Charakters ist nothwendig; die Summe der Moral ist hier
Hinwendung zum Gotte 4), Abkehr von allem, was in die Sterb-
lichkeit und das Leibesleben verstrickt. Der grimmige Ernst
freilich, mit dem die Büsser Indiens den eigenen Willen vom
Leben abreissen, an das er mit klammernden Organen sich
festhält, fand unter Griechen, dem Volke des Lebens, auch
bei weltverneinenden Asketen keine Stelle. Die Verschmähung
der Fleischnahrung war die stärkste und auffallendste Enthal-
tung der orphischen Asketen 5). Im Uebrigen hielten sie sich
im wesentlichen rein von solchen Dingen und Verhältnissen,
die das Hangen an der Welt des Todes und der Vergänglich-

1) fr. 208. 226. Διόνυσος λυσεύς, λύσιος, ϑεοὶ λύσιοι. S. Lobeck 809 f.
Vgl. auch fr. 311 (Ficin.).
2) Ὀρφέα τ̕ ἄνακτ̕ ἔχων βάκχευε — Eurip. Hippol. 950 (ἄναξ, nicht
δεσπότης: v. 87).
3) Ὀρφικὸς βίος. Plat. Leg. 6, 782 C. S. Lobeck 244 ff.
4) Das Pythagoreische ἕπου ϑεῷ, ἀκολουϑεῖν τῷ ϑεῷ (Jamblich. V. P.
137 aus Aristoxenus) könnte man auch den Orphikern zum Wahlspruch
geben.
5) ἄψυχος βορά der Orphiker: Eurip. Hippol. 951. Plat. Leg. 6, 782 C. D.
Vgl. Lobeck p. 246. So ist auch zu verstehen Arist. Ran. 1032: Ὀρφεὺς
μὲν γὰρ τελετάς ϑ̕ἡμῖν κατέδειξε φόνων (d. h. der Nahrung von getödteten
Thieren) τ̕ἀπέχεσϑαι. Missgedeutet bei Horat. A. P. 391 f.: silvestris
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[418/0434] endlosen Qualenweg erlösen. Nicht eigener Kraft, der Gnade „erlösender Götter“ soll der Mensch seine Befreiung ver- danken 1). Der Selbstverlass des alten Griechenthums ist hier gebrochen; schwachmüthig sieht der Fromme nach fremder Hilfe aus; es bedarf der Offenbarungen und Vermittlungen „Orpheus des Gebieters“ 2), um den Weg zum Heil zu finden, und ängstlicher Beachtung seiner Heilsordnung, damit man ihn gehen könne. Nicht die heiligen Orgien allein, wie sie Orpheus geordnet hat, bereiten die Erlösung vor, ein ganzes „orphisches Leben“ 3) muss sich aus ihnen entwickeln. Die Askese ist die Grund- bedingung des frommen Lebens. Sie fordert nicht Uebung bürgerlicher Tugenden, nicht Zucht und sittliche Umbildung des Charakters ist nothwendig; die Summe der Moral ist hier Hinwendung zum Gotte 4), Abkehr von allem, was in die Sterb- lichkeit und das Leibesleben verstrickt. Der grimmige Ernst freilich, mit dem die Büsser Indiens den eigenen Willen vom Leben abreissen, an das er mit klammernden Organen sich festhält, fand unter Griechen, dem Volke des Lebens, auch bei weltverneinenden Asketen keine Stelle. Die Verschmähung der Fleischnahrung war die stärkste und auffallendste Enthal- tung der orphischen Asketen 5). Im Uebrigen hielten sie sich im wesentlichen rein von solchen Dingen und Verhältnissen, die das Hangen an der Welt des Todes und der Vergänglich- 1) fr. 208. 226. Διόνυσος λυσεύς, λύσιος, ϑεοὶ λύσιοι. S. Lobeck 809 f. Vgl. auch fr. 311 (Ficin.). 2) Ὀρφέα τ̕ ἄνακτ̕ ἔχων βάκχευε — Eurip. Hippol. 950 (ἄναξ, nicht δεσπότης: v. 87). 3) Ὀρφικὸς βίος. Plat. Leg. 6, 782 C. S. Lobeck 244 ff. 4) Das Pythagoreische ἕπου ϑεῷ, ἀκολουϑεῖν τῷ ϑεῷ (Jamblich. V. P. 137 aus Aristoxenus) könnte man auch den Orphikern zum Wahlspruch geben. 5) ἄψυχος βορά der Orphiker: Eurip. Hippol. 951. Plat. Leg. 6, 782 C. D. Vgl. Lobeck p. 246. So ist auch zu verstehen Arist. Ran. 1032: Ὀρφεὺς μὲν γὰρ τελετάς ϑ̕ἡμῖν κατέδειξε φόνων (d. h. der Nahrung von getödteten Thieren) τ̕ἀπέχεσϑαι. Missgedeutet bei Horat. A. P. 391 f.: silvestris homines-caedibus et victu foedo deterruit Orpheus.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/434>, abgerufen am 22.11.2024.