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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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das spätere Griechenthum eifrig übte) auf diesem Standpunkte
alle Veranlassung fehlte. Man bemerke aber auch, dass die
überreiche Labung der Seele des Patroklos beim Leichen-
begängniss keinen vollen Sinn mehr hat, wenn das Wohlwollen
der Seele, das hierdurch gesichert werden soll, später gar keine
Gelegenheit sich zu bethätigen hat. Aus der Incongruenz der
homerischen Glaubenswelt mit diesen eindrucksvollen Vorgängen
ist mit Bestimmtheit zu entnehmen, dass die herkömmliche
Meinung, nach welcher die Darstellung des Seelencultes am
Scheiterhaufen des Patroklos Ansätzen zu neuen und leben-
digeren Vorstellungen vom Leben der abgeschiedenen Seele
entsprechen soll, unmöglich richtig sein kann. Wo neu hervor-
drängende Ahnungen, Wünsche und Meinungen sich einen
Ausdruck in äusseren Formen suchen, da pflegen die neuen
Gedanken unvollständiger in den unfertigen äusseren Formen,
klarer und bewusster, mit einem gewissen Ueberschuss, in den
schneller voraneilenden Worten und Aeusserungen der Menschen
sich darzustellen. Hier ist es umgekehrt: einem reich ent-
wickelten Ceremoniell widersprechen alle Aussagen des Dichters
über die Verhältnisse, deren Ausdruck die Ceremonie sein
müsste, nirgends -- oder wo etwa? -- tritt ein Zug nach der
Richtung des Glaubens hervor, den das Ceremoniell vertritt,
die Tendenz ist eher eine entschieden und mit Bewusstsein
entgegengesetzte. Es kann nicht der geringste Zweifel darüber
bestehen, dass in der Bestattungsfeier für Patroklos nicht ein
Keim neuer Bildungen, sondern ein "Rudiment" des lebhafteren
Seelencultes einer vergangenen Zeit zu erkennen ist, eines Cultus,
der einst der völlig entsprechende Ausdruck für den Glauben
an grosse und dauernde Macht der abgeschiedenen Seelen
gewesen sein muss, nun aber in einer Zeit sich unversehrt
erhalten hat, die, aus anders gewordenem Glauben heraus, den
Sinn solcher Culthandlungen nur halb oder auch gar nicht
mehr versteht. So pflegt ja überall der Brauch die Stim-
mung und den Glauben, die ihn entstehen liessen, zu über-
leben.

das spätere Griechenthum eifrig übte) auf diesem Standpunkte
alle Veranlassung fehlte. Man bemerke aber auch, dass die
überreiche Labung der Seele des Patroklos beim Leichen-
begängniss keinen vollen Sinn mehr hat, wenn das Wohlwollen
der Seele, das hierdurch gesichert werden soll, später gar keine
Gelegenheit sich zu bethätigen hat. Aus der Incongruenz der
homerischen Glaubenswelt mit diesen eindrucksvollen Vorgängen
ist mit Bestimmtheit zu entnehmen, dass die herkömmliche
Meinung, nach welcher die Darstellung des Seelencultes am
Scheiterhaufen des Patroklos Ansätzen zu neuen und leben-
digeren Vorstellungen vom Leben der abgeschiedenen Seele
entsprechen soll, unmöglich richtig sein kann. Wo neu hervor-
drängende Ahnungen, Wünsche und Meinungen sich einen
Ausdruck in äusseren Formen suchen, da pflegen die neuen
Gedanken unvollständiger in den unfertigen äusseren Formen,
klarer und bewusster, mit einem gewissen Ueberschuss, in den
schneller voraneilenden Worten und Aeusserungen der Menschen
sich darzustellen. Hier ist es umgekehrt: einem reich ent-
wickelten Ceremoniell widersprechen alle Aussagen des Dichters
über die Verhältnisse, deren Ausdruck die Ceremonie sein
müsste, nirgends — oder wo etwa? — tritt ein Zug nach der
Richtung des Glaubens hervor, den das Ceremoniell vertritt,
die Tendenz ist eher eine entschieden und mit Bewusstsein
entgegengesetzte. Es kann nicht der geringste Zweifel darüber
bestehen, dass in der Bestattungsfeier für Patroklos nicht ein
Keim neuer Bildungen, sondern ein „Rudiment“ des lebhafteren
Seelencultes einer vergangenen Zeit zu erkennen ist, eines Cultus,
der einst der völlig entsprechende Ausdruck für den Glauben
an grosse und dauernde Macht der abgeschiedenen Seelen
gewesen sein muss, nun aber in einer Zeit sich unversehrt
erhalten hat, die, aus anders gewordenem Glauben heraus, den
Sinn solcher Culthandlungen nur halb oder auch gar nicht
mehr versteht. So pflegt ja überall der Brauch die Stim-
mung und den Glauben, die ihn entstehen liessen, zu über-
leben.

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[21/0037] das spätere Griechenthum eifrig übte) auf diesem Standpunkte alle Veranlassung fehlte. Man bemerke aber auch, dass die überreiche Labung der Seele des Patroklos beim Leichen- begängniss keinen vollen Sinn mehr hat, wenn das Wohlwollen der Seele, das hierdurch gesichert werden soll, später gar keine Gelegenheit sich zu bethätigen hat. Aus der Incongruenz der homerischen Glaubenswelt mit diesen eindrucksvollen Vorgängen ist mit Bestimmtheit zu entnehmen, dass die herkömmliche Meinung, nach welcher die Darstellung des Seelencultes am Scheiterhaufen des Patroklos Ansätzen zu neuen und leben- digeren Vorstellungen vom Leben der abgeschiedenen Seele entsprechen soll, unmöglich richtig sein kann. Wo neu hervor- drängende Ahnungen, Wünsche und Meinungen sich einen Ausdruck in äusseren Formen suchen, da pflegen die neuen Gedanken unvollständiger in den unfertigen äusseren Formen, klarer und bewusster, mit einem gewissen Ueberschuss, in den schneller voraneilenden Worten und Aeusserungen der Menschen sich darzustellen. Hier ist es umgekehrt: einem reich ent- wickelten Ceremoniell widersprechen alle Aussagen des Dichters über die Verhältnisse, deren Ausdruck die Ceremonie sein müsste, nirgends — oder wo etwa? — tritt ein Zug nach der Richtung des Glaubens hervor, den das Ceremoniell vertritt, die Tendenz ist eher eine entschieden und mit Bewusstsein entgegengesetzte. Es kann nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, dass in der Bestattungsfeier für Patroklos nicht ein Keim neuer Bildungen, sondern ein „Rudiment“ des lebhafteren Seelencultes einer vergangenen Zeit zu erkennen ist, eines Cultus, der einst der völlig entsprechende Ausdruck für den Glauben an grosse und dauernde Macht der abgeschiedenen Seelen gewesen sein muss, nun aber in einer Zeit sich unversehrt erhalten hat, die, aus anders gewordenem Glauben heraus, den Sinn solcher Culthandlungen nur halb oder auch gar nicht mehr versteht. So pflegt ja überall der Brauch die Stim- mung und den Glauben, die ihn entstehen liessen, zu über- leben.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/37>, abgerufen am 29.03.2024.