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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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man denken, von einer zum Schwärmerischen gesteigerten Er-
regbarkeit, einem heftigen Zug und Schwung aufwärts ins
Unerreichbare. Nichts in griechischer Religionsverfassung hin-
derte solche Männer oder Frauen, eine religiöse Wirksamkeit,
die ihnen nicht durch die Autorität der Religionsgemeinde des
Staates zugestanden war, einzig auf die Beglaubigung durch
ihr eigenes Bewusstsein, durch ihre eigene Erfahrung von gött-
licher Begnadung 1), von innigerem Zusammenhang mit gött-
lichen Mächten, zu begründen.

In dem Dunkel dieser gährenden Werdezeit vom achten
bis ins sechste Jahrhundert sehen wir schattenhaft sich manche
Gestalten solcher Art bewegen, die sich jenen, rein durch
unmittelbar göttliche Gnadengabe (kharisma) zu ihrem Werke
bestellten, ohne Anschluss an die bestehenden Gemeinden durch
die Länder wandernden Propheten, Asketen und Exorcisten
der ersten Werdezeiten des Christenthums vergleichen lassen.
Was uns von Sibyllen und Bakiden, einzeln und ohne
Auftrag bestehender Orakelinstitute wirkenden, aller Zukunft
kundigen, weissagend die Länder durchwandernden Weibern
und Männern berichtet wird, sind freilich nur Sagen, aber
solche die einen in voller Wirklichkeit bestehenden Zustand,
zu einzelnen Bildern verdichtet, festhalten. Die Benennungen
selbst: Sibyllen, Bakiden, nicht Eigennamen, sondern Bezeich-
nungen je einer ganzen Gattung ekstatischer Propheten 2),

1) Ein merkwürdiges Beispiel in Herodots Erzählung von dem ge-
blendeten Euenios in Apollonia, dem plötzlich emphutos (nicht erlernte)
mantike kam (9, 94). Ein richtiger theomantis (Plat. Apol. 22 C).
2) Dass Bakis und Sibulla eigentlich Appellativa, Bezeichnungen
begeisterter khresmodoi waren (Sibulla die paronumia der Herophile: Plut.
Pyth. or. 14, wie Bakis ein epitheton des Pisistratus: Schol. Ar. Pac. 1071),
war den Alten wohl bekannt. Deutlich zur Bezeichnung je einer ganzen
Klasse von Wesen braucht die Worte Aristot. probl. 954 a, 36: von nose-
mata manika kai enthousiastika werden befallen die Sibullai kai Bakides
kai entheoi pantes. So ist auch wohl, wenn alte Zeugen von "der Sibylle",
"dem Bakis" im Singular reden, zumeist das Wort als Gattungsbezeichnung
gedacht; wie ja auch, wo e Puthia, e Puthias gesagt wird, allermeist nicht
eine bestimmte einzelne Pythia, sondern der Gattungsbegriff der Pythien

man denken, von einer zum Schwärmerischen gesteigerten Er-
regbarkeit, einem heftigen Zug und Schwung aufwärts ins
Unerreichbare. Nichts in griechischer Religionsverfassung hin-
derte solche Männer oder Frauen, eine religiöse Wirksamkeit,
die ihnen nicht durch die Autorität der Religionsgemeinde des
Staates zugestanden war, einzig auf die Beglaubigung durch
ihr eigenes Bewusstsein, durch ihre eigene Erfahrung von gött-
licher Begnadung 1), von innigerem Zusammenhang mit gött-
lichen Mächten, zu begründen.

In dem Dunkel dieser gährenden Werdezeit vom achten
bis ins sechste Jahrhundert sehen wir schattenhaft sich manche
Gestalten solcher Art bewegen, die sich jenen, rein durch
unmittelbar göttliche Gnadengabe (χάρισμα) zu ihrem Werke
bestellten, ohne Anschluss an die bestehenden Gemeinden durch
die Länder wandernden Propheten, Asketen und Exorcisten
der ersten Werdezeiten des Christenthums vergleichen lassen.
Was uns von Sibyllen und Bakiden, einzeln und ohne
Auftrag bestehender Orakelinstitute wirkenden, aller Zukunft
kundigen, weissagend die Länder durchwandernden Weibern
und Männern berichtet wird, sind freilich nur Sagen, aber
solche die einen in voller Wirklichkeit bestehenden Zustand,
zu einzelnen Bildern verdichtet, festhalten. Die Benennungen
selbst: Sibyllen, Bakiden, nicht Eigennamen, sondern Bezeich-
nungen je einer ganzen Gattung ekstatischer Propheten 2),

1) Ein merkwürdiges Beispiel in Herodots Erzählung von dem ge-
blendeten Euenios in Apollonia, dem plötzlich ἔμφυτος (nicht erlernte)
μαντική kam (9, 94). Ein richtiger ϑεόμαντις (Plat. Apol. 22 C).
2) Dass Βάκις und Σίβυλλα eigentlich Appellativa, Bezeichnungen
begeisterter χρησμωδοί waren (Σίβυλλα die παρωνυμία der Herophile: Plut.
Pyth. or. 14, wie Βάκις ein ἐπίϑετον des Pisistratus: Schol. Ar. Pac. 1071),
war den Alten wohl bekannt. Deutlich zur Bezeichnung je einer ganzen
Klasse von Wesen braucht die Worte Aristot. probl. 954 a, 36: von νοσή-
ματα μανικὰ καὶ ἐνϑουσιαστικά werden befallen die Σίβυλλαι καὶ Βάκιδες
καὶ ἔνϑεοι πάντες. So ist auch wohl, wenn alte Zeugen von „der Sibylle“,
„dem Bakis“ im Singular reden, zumeist das Wort als Gattungsbezeichnung
gedacht; wie ja auch, wo ἡ Πυϑία, ἡ Πυϑιάς gesagt wird, allermeist nicht
eine bestimmte einzelne Pythia, sondern der Gattungsbegriff der Pythien
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[351/0367] man denken, von einer zum Schwärmerischen gesteigerten Er- regbarkeit, einem heftigen Zug und Schwung aufwärts ins Unerreichbare. Nichts in griechischer Religionsverfassung hin- derte solche Männer oder Frauen, eine religiöse Wirksamkeit, die ihnen nicht durch die Autorität der Religionsgemeinde des Staates zugestanden war, einzig auf die Beglaubigung durch ihr eigenes Bewusstsein, durch ihre eigene Erfahrung von gött- licher Begnadung 1), von innigerem Zusammenhang mit gött- lichen Mächten, zu begründen. In dem Dunkel dieser gährenden Werdezeit vom achten bis ins sechste Jahrhundert sehen wir schattenhaft sich manche Gestalten solcher Art bewegen, die sich jenen, rein durch unmittelbar göttliche Gnadengabe (χάρισμα) zu ihrem Werke bestellten, ohne Anschluss an die bestehenden Gemeinden durch die Länder wandernden Propheten, Asketen und Exorcisten der ersten Werdezeiten des Christenthums vergleichen lassen. Was uns von Sibyllen und Bakiden, einzeln und ohne Auftrag bestehender Orakelinstitute wirkenden, aller Zukunft kundigen, weissagend die Länder durchwandernden Weibern und Männern berichtet wird, sind freilich nur Sagen, aber solche die einen in voller Wirklichkeit bestehenden Zustand, zu einzelnen Bildern verdichtet, festhalten. Die Benennungen selbst: Sibyllen, Bakiden, nicht Eigennamen, sondern Bezeich- nungen je einer ganzen Gattung ekstatischer Propheten 2), 1) Ein merkwürdiges Beispiel in Herodots Erzählung von dem ge- blendeten Euenios in Apollonia, dem plötzlich ἔμφυτος (nicht erlernte) μαντική kam (9, 94). Ein richtiger ϑεόμαντις (Plat. Apol. 22 C). 2) Dass Βάκις und Σίβυλλα eigentlich Appellativa, Bezeichnungen begeisterter χρησμωδοί waren (Σίβυλλα die παρωνυμία der Herophile: Plut. Pyth. or. 14, wie Βάκις ein ἐπίϑετον des Pisistratus: Schol. Ar. Pac. 1071), war den Alten wohl bekannt. Deutlich zur Bezeichnung je einer ganzen Klasse von Wesen braucht die Worte Aristot. probl. 954 a, 36: von νοσή- ματα μανικὰ καὶ ἐνϑουσιαστικά werden befallen die Σίβυλλαι καὶ Βάκιδες καὶ ἔνϑεοι πάντες. So ist auch wohl, wenn alte Zeugen von „der Sibylle“, „dem Bakis“ im Singular reden, zumeist das Wort als Gattungsbezeichnung gedacht; wie ja auch, wo ἡ Πυϑία, ἡ Πυϑιάς gesagt wird, allermeist nicht eine bestimmte einzelne Pythia, sondern der Gattungsbegriff der Pythien

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/367>, abgerufen am 25.11.2024.