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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Todtengerichte am Tage der Rechtfertigung u. s. w., wie sie
die Aegypter in Bild und Schrift breit ausgeführt haben. Vor
der trüben Ernsthaftigkeit, mit der dort ein phantasiearmes
Volk aus einmal mit Anstrengung ergriffenen Speculationen
und Visionen sich ein starres, lastendes Dogma geschmiedet
hat, waren die Griechen durch ihren Genius bewahrt. Ihre
Phantasie ist eine geflügelte Gottheit, deren Art es ist,
schwebend die Dinge zu berühren, nicht wuchtig niederzu-
fallen und mit bleierner Schwere liegen zu bleiben. Auch
waren sie für die Infectionskrankheit des "Sündenbewusstseins"
in ihren guten Jahrhunderten sehr wenig empfänglich. Was
sollten ihnen Bilder unterweltlicher Reinigung und Peinigung
von Sündern aller erdenklichen Arten und Abstufungen, wie
in Dantes grauser Hölle? Wahr ist es, dass selbst solche
gräuliche christliche Höllenphantasien sich zum Theil aus
griechischen Quellen speisen. Aber es war der Wahn einzelner
sich absondernder Secten, der Bilder dieser Art hervorrief, und
sich einer philosophischen Speculation zu empfehlen vermochte,
die in ihren trübsten Stunden allen Grundtrieben griechischer
Cultur zürnend absagte. Das griechische Volk, seine Religion,
und auch die Mysterien, die der Staat verwaltete und heilig
hielt, darf man von solchen Abirrungen freisprechen.


mit dem Knaben muss der Sagenwelt angehören. (Dionys und Ariadne,
wie Winkler, Darst. d. Unterw. auf unterit. Vasen 49 meint, kann freilich
das Paar unmöglich darstellen.)

Todtengerichte am Tage der Rechtfertigung u. s. w., wie sie
die Aegypter in Bild und Schrift breit ausgeführt haben. Vor
der trüben Ernsthaftigkeit, mit der dort ein phantasiearmes
Volk aus einmal mit Anstrengung ergriffenen Speculationen
und Visionen sich ein starres, lastendes Dogma geschmiedet
hat, waren die Griechen durch ihren Genius bewahrt. Ihre
Phantasie ist eine geflügelte Gottheit, deren Art es ist,
schwebend die Dinge zu berühren, nicht wuchtig niederzu-
fallen und mit bleierner Schwere liegen zu bleiben. Auch
waren sie für die Infectionskrankheit des „Sündenbewusstseins“
in ihren guten Jahrhunderten sehr wenig empfänglich. Was
sollten ihnen Bilder unterweltlicher Reinigung und Peinigung
von Sündern aller erdenklichen Arten und Abstufungen, wie
in Dantes grauser Hölle? Wahr ist es, dass selbst solche
gräuliche christliche Höllenphantasien sich zum Theil aus
griechischen Quellen speisen. Aber es war der Wahn einzelner
sich absondernder Secten, der Bilder dieser Art hervorrief, und
sich einer philosophischen Speculation zu empfehlen vermochte,
die in ihren trübsten Stunden allen Grundtrieben griechischer
Cultur zürnend absagte. Das griechische Volk, seine Religion,
und auch die Mysterien, die der Staat verwaltete und heilig
hielt, darf man von solchen Abirrungen freisprechen.


mit dem Knaben muss der Sagenwelt angehören. (Dionys und Ariadne,
wie Winkler, Darst. d. Unterw. auf unterit. Vasen 49 meint, kann freilich
das Paar unmöglich darstellen.)
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[294/0310] Todtengerichte am Tage der Rechtfertigung u. s. w., wie sie die Aegypter in Bild und Schrift breit ausgeführt haben. Vor der trüben Ernsthaftigkeit, mit der dort ein phantasiearmes Volk aus einmal mit Anstrengung ergriffenen Speculationen und Visionen sich ein starres, lastendes Dogma geschmiedet hat, waren die Griechen durch ihren Genius bewahrt. Ihre Phantasie ist eine geflügelte Gottheit, deren Art es ist, schwebend die Dinge zu berühren, nicht wuchtig niederzu- fallen und mit bleierner Schwere liegen zu bleiben. Auch waren sie für die Infectionskrankheit des „Sündenbewusstseins“ in ihren guten Jahrhunderten sehr wenig empfänglich. Was sollten ihnen Bilder unterweltlicher Reinigung und Peinigung von Sündern aller erdenklichen Arten und Abstufungen, wie in Dantes grauser Hölle? Wahr ist es, dass selbst solche gräuliche christliche Höllenphantasien sich zum Theil aus griechischen Quellen speisen. Aber es war der Wahn einzelner sich absondernder Secten, der Bilder dieser Art hervorrief, und sich einer philosophischen Speculation zu empfehlen vermochte, die in ihren trübsten Stunden allen Grundtrieben griechischer Cultur zürnend absagte. Das griechische Volk, seine Religion, und auch die Mysterien, die der Staat verwaltete und heilig hielt, darf man von solchen Abirrungen freisprechen. 3) 3) mit dem Knaben muss der Sagenwelt angehören. (Dionys und Ariadne, wie Winkler, Darst. d. Unterw. auf unterit. Vasen 49 meint, kann freilich das Paar unmöglich darstellen.)

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/310>, abgerufen am 18.05.2024.