rien von Eleusis daran gänzlich unbetheiligt gewesen. Man bedenke doch: Eleusis weiht, mit einziger Ausnahme der Mordbefleckten, Griechen aller Arten, ohne ihre Thaten, ihr Leben oder gar ihren Charakter zu prüfen. Den Geweiheten war seliges Leben im Jenseits verheissen, den Ungeweiheten trübes Loos in Aussicht gestellt. Die Scheidung wurde nicht nach Gut und Böse gemacht: "Pataekion der Dieb wird nach seinem Tode ein besseres Loos haben, weil er in Eleusis ge- weiht ist als Agesilaos und Epaminondas" höhnte Diogenes der Cyniker. Nicht das bürgerliche oder moralische, das "geist- liche" Verdienst allein entscheidet. Man wird sich darüber nicht sehr verwundern: die meisten Religionen halten es so. Jedenfalls aber: einem Gericht über Tugend und Laster im Hades war durch die in den Mysterien nach ganz anderen Ge- sichtspuncten ausgetheilten unterirdischen Belohnungen und Strafen vorgegriffen. Wo die Mysterien ernst und wichtig ge- nommen wurden, da konnten sie den Gedanken einer Vergeltung guter und böser Thaten im Hades, falls er sich regen wollte, eher zu unterdrücken beitragen: in ihnen ist nichts, was ihn beförderte.
Nun schliesst sich freilich die religiöse Moral, unter geistig beweglichen Völkern, gern und leicht der bürgerlichen Moral und deren selbständiger Entwicklung an; nur so kann sie die Leitung behalten. Und so mag sich in der Vorstellung vieler Griechen an den Begriff der religiösen Rechtfertigung (durch die Weihen) derjenige der bürgerlichen Rechtschaffen- heit angelehnt, und neben die Schaaren Unseliger, die mit den heiligen Weihen auch das Heil im Jenseits versäumt hatten, sich die nicht geringe Anzahl solcher Menschen gestellt haben, denen Verletzung des Rechtes der Götter, der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft im Hades schlimmen Lohn einbringt. Solche die falsch geschworen, den eigenen Vater geschlagen, das Gastrecht verletzt haben, lässt (in den "Fröschen") Aristophanes dort unten "im Schlamm liegen", eine Strafandrohung, die ursprünglich orphische Privatmysterien den Ungeweiheten in
rien von Eleusis daran gänzlich unbetheiligt gewesen. Man bedenke doch: Eleusis weiht, mit einziger Ausnahme der Mordbefleckten, Griechen aller Arten, ohne ihre Thaten, ihr Leben oder gar ihren Charakter zu prüfen. Den Geweiheten war seliges Leben im Jenseits verheissen, den Ungeweiheten trübes Loos in Aussicht gestellt. Die Scheidung wurde nicht nach Gut und Böse gemacht: „Pataekion der Dieb wird nach seinem Tode ein besseres Loos haben, weil er in Eleusis ge- weiht ist als Agesilaos und Epaminondas“ höhnte Diogenes der Cyniker. Nicht das bürgerliche oder moralische, das „geist- liche“ Verdienst allein entscheidet. Man wird sich darüber nicht sehr verwundern: die meisten Religionen halten es so. Jedenfalls aber: einem Gericht über Tugend und Laster im Hades war durch die in den Mysterien nach ganz anderen Ge- sichtspuncten ausgetheilten unterirdischen Belohnungen und Strafen vorgegriffen. Wo die Mysterien ernst und wichtig ge- nommen wurden, da konnten sie den Gedanken einer Vergeltung guter und böser Thaten im Hades, falls er sich regen wollte, eher zu unterdrücken beitragen: in ihnen ist nichts, was ihn beförderte.
Nun schliesst sich freilich die religiöse Moral, unter geistig beweglichen Völkern, gern und leicht der bürgerlichen Moral und deren selbständiger Entwicklung an; nur so kann sie die Leitung behalten. Und so mag sich in der Vorstellung vieler Griechen an den Begriff der religiösen Rechtfertigung (durch die Weihen) derjenige der bürgerlichen Rechtschaffen- heit angelehnt, und neben die Schaaren Unseliger, die mit den heiligen Weihen auch das Heil im Jenseits versäumt hatten, sich die nicht geringe Anzahl solcher Menschen gestellt haben, denen Verletzung des Rechtes der Götter, der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft im Hades schlimmen Lohn einbringt. Solche die falsch geschworen, den eigenen Vater geschlagen, das Gastrecht verletzt haben, lässt (in den „Fröschen“) Aristophanes dort unten „im Schlamm liegen“, eine Strafandrohung, die ursprünglich orphische Privatmysterien den Ungeweiheten in
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rien von Eleusis daran gänzlich unbetheiligt gewesen. Man
bedenke doch: Eleusis weiht, mit einziger Ausnahme der
Mordbefleckten, Griechen aller Arten, ohne ihre Thaten, ihr
Leben oder gar ihren Charakter zu prüfen. Den Geweiheten
war seliges Leben im Jenseits verheissen, den Ungeweiheten
trübes Loos in Aussicht gestellt. Die Scheidung wurde nicht
nach Gut und Böse gemacht: „Pataekion der Dieb wird nach
seinem Tode ein besseres Loos haben, weil er in Eleusis ge-
weiht ist als Agesilaos und Epaminondas“ höhnte Diogenes der
Cyniker. Nicht das bürgerliche oder moralische, das „geist-
liche“ Verdienst allein entscheidet. Man wird sich darüber
nicht sehr verwundern: die meisten Religionen halten es so.
Jedenfalls aber: einem Gericht über Tugend und Laster im
Hades war durch die in den Mysterien nach ganz anderen Ge-
sichtspuncten ausgetheilten unterirdischen Belohnungen und
Strafen vorgegriffen. Wo die Mysterien ernst und wichtig ge-
nommen wurden, da konnten sie den Gedanken einer Vergeltung
guter und böser Thaten im Hades, falls er sich regen wollte,
eher zu unterdrücken beitragen: in ihnen ist nichts, was ihn
beförderte.
Nun schliesst sich freilich die religiöse Moral, unter geistig
beweglichen Völkern, gern und leicht der bürgerlichen Moral
und deren selbständiger Entwicklung an; nur so kann sie die
Leitung behalten. Und so mag sich in der Vorstellung
vieler Griechen an den Begriff der religiösen Rechtfertigung
(durch die Weihen) derjenige der bürgerlichen Rechtschaffen-
heit angelehnt, und neben die Schaaren Unseliger, die mit den
heiligen Weihen auch das Heil im Jenseits versäumt hatten,
sich die nicht geringe Anzahl solcher Menschen gestellt haben,
denen Verletzung des Rechtes der Götter, der Familie und der
bürgerlichen Gesellschaft im Hades schlimmen Lohn einbringt.
Solche die falsch geschworen, den eigenen Vater geschlagen, das
Gastrecht verletzt haben, lässt (in den „Fröschen“) Aristophanes
dort unten „im Schlamm liegen“, eine Strafandrohung, die
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/303>, abgerufen am 22.11.2024.
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