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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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treten immerhin deutlich hervor. An einzelnen, bereits bemerk-
lich gemachten Anzeichen können wir abnehmen, dass der Cult
der Todten in früheren Zeiten mit grösserem Aufwand und
lebhafterer Inbrunst betrieben wurde als in den Jahrhunderten,
über die unsere Kenntniss wenig hinaus reicht, dem sechsten
und fünften. Und wir müssen auf einen, der grösseren Stärke
des Cultus entsprechenden, lebhafteren Glauben an Kraft und
Würde der Seelen in jenen früheren Zeiten schliessen. Mit
grosser Macht scheint damals der alte Glaube und Brauch durch
die Verdunklung, die Gleichgültigkeit der in den homerischen
Gedichten zu uns redenden Zeit hervorgebrochen zu sein. Einem
einzelnen der griechischen Stämme hierbei eine besonders ein-
greifende Thätigkeit zuzuschreiben, haben wir keine Veran-
lassung. Je nach der Sinnesart und der Culturentwicklung der
Bewohner der einzelnen Landschaften zeigt freilich auch ihr
Seelencult wechselnde Züge. In Attika ist die Grundstimmung
die einer pietätvollen Vertraulichkeit; in Lakonien, in Böotien1)
treten uns höher gesteigerte Vorstellungen vom Dasein der
Abgeschiedenen entgegen. Anderswo, wie in Lokris, auf der
Insel Keos2), scheint nur eine sehr abgeschwächte Weise des

1) In Böotien (wie sonst namentlich in Thessalien) ist die Bezeich-
nung des Todten als eros, welche immer eine höhere Auffassung seines
Geisterdaseins ausdrückt, besonders häufig auf Grabsteinen anzutreffen.
Hiervon Genaueres weiter unten. Die Inschriften sind meist jungen
Datums. Aber schon im 5. Jahrhundert (allenfalls Anfang des 4.) war
Heroisirung gewöhnlicher Todten in Theben verbreitete Sitte, auf die
Platon der Komiker im "Menelaos" anspielte: ti ouk apegxo, ina Thebesin
eros gene; (Zenob. 6, 17 u. a. Mit der thebanischen Sitte, Selbstmördern
die Todtenehren zu verweigern, bringen die Paroemiographen Platons
Wort unpassend und gegen dessen Absicht in Verbindung. Treffend ur-
theilt Keil, Syll. inscr. Boeot. p. 153.)
2) Bei den epizephyrischen Lokrern oduresthai ouk estin epi tois teleu-
tesasin, all epeidan ekkomisosin, euokhountai. Ps. heraclid. polit. 30, 2. Bei
den Einwohnern von Keos legen die Männer keine Trauerzeichen an;
die Frauen freilich trauern um einen jung gestorbenen Sohn ein Jahr
lang. Ders. 9, 4 (s. Welcker, Kl. Schr. 2, 502). Die nach athenischem Muster
erlassene Leichenordnung von Iulis lässt allerdings bei dem Volke eher
eine Neigung zu ausschweifender Trauerbezeigung voraussetzen.

treten immerhin deutlich hervor. An einzelnen, bereits bemerk-
lich gemachten Anzeichen können wir abnehmen, dass der Cult
der Todten in früheren Zeiten mit grösserem Aufwand und
lebhafterer Inbrunst betrieben wurde als in den Jahrhunderten,
über die unsere Kenntniss wenig hinaus reicht, dem sechsten
und fünften. Und wir müssen auf einen, der grösseren Stärke
des Cultus entsprechenden, lebhafteren Glauben an Kraft und
Würde der Seelen in jenen früheren Zeiten schliessen. Mit
grosser Macht scheint damals der alte Glaube und Brauch durch
die Verdunklung, die Gleichgültigkeit der in den homerischen
Gedichten zu uns redenden Zeit hervorgebrochen zu sein. Einem
einzelnen der griechischen Stämme hierbei eine besonders ein-
greifende Thätigkeit zuzuschreiben, haben wir keine Veran-
lassung. Je nach der Sinnesart und der Culturentwicklung der
Bewohner der einzelnen Landschaften zeigt freilich auch ihr
Seelencult wechselnde Züge. In Attika ist die Grundstimmung
die einer pietätvollen Vertraulichkeit; in Lakonien, in Böotien1)
treten uns höher gesteigerte Vorstellungen vom Dasein der
Abgeschiedenen entgegen. Anderswo, wie in Lokris, auf der
Insel Keos2), scheint nur eine sehr abgeschwächte Weise des

1) In Böotien (wie sonst namentlich in Thessalien) ist die Bezeich-
nung des Todten als ἥρως, welche immer eine höhere Auffassung seines
Geisterdaseins ausdrückt, besonders häufig auf Grabsteinen anzutreffen.
Hiervon Genaueres weiter unten. Die Inschriften sind meist jungen
Datums. Aber schon im 5. Jahrhundert (allenfalls Anfang des 4.) war
Heroisirung gewöhnlicher Todten in Theben verbreitete Sitte, auf die
Platon der Komiker im „Menelaos“ anspielte: τί οὐκ ἀπήγξω, ἵνα Θήβησιν
ἥρως γένῃ; (Zenob. 6, 17 u. a. Mit der thebanischen Sitte, Selbstmördern
die Todtenehren zu verweigern, bringen die Paroemiographen Platons
Wort unpassend und gegen dessen Absicht in Verbindung. Treffend ur-
theilt Keil, Syll. inscr. Boeot. p. 153.)
2) Bei den epizephyrischen Lokrern ὀδύρεσϑαι οὐκ ἔστιν ἐπὶ τοῖς τελευ-
τήσασιν, ἀλλ̕ ἐπειδὰν ἐκκομίσωσιν, ἐυωχοῦνται. Ps. heraclid. polit. 30, 2. Bei
den Einwohnern von Keos legen die Männer keine Trauerzeichen an;
die Frauen freilich trauern um einen jung gestorbenen Sohn ein Jahr
lang. Ders. 9, 4 (s. Welcker, Kl. Schr. 2, 502). Die nach athenischem Muster
erlassene Leichenordnung von Iulis lässt allerdings bei dem Volke eher
eine Neigung zu ausschweifender Trauerbezeigung voraussetzen.
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[234/0250] treten immerhin deutlich hervor. An einzelnen, bereits bemerk- lich gemachten Anzeichen können wir abnehmen, dass der Cult der Todten in früheren Zeiten mit grösserem Aufwand und lebhafterer Inbrunst betrieben wurde als in den Jahrhunderten, über die unsere Kenntniss wenig hinaus reicht, dem sechsten und fünften. Und wir müssen auf einen, der grösseren Stärke des Cultus entsprechenden, lebhafteren Glauben an Kraft und Würde der Seelen in jenen früheren Zeiten schliessen. Mit grosser Macht scheint damals der alte Glaube und Brauch durch die Verdunklung, die Gleichgültigkeit der in den homerischen Gedichten zu uns redenden Zeit hervorgebrochen zu sein. Einem einzelnen der griechischen Stämme hierbei eine besonders ein- greifende Thätigkeit zuzuschreiben, haben wir keine Veran- lassung. Je nach der Sinnesart und der Culturentwicklung der Bewohner der einzelnen Landschaften zeigt freilich auch ihr Seelencult wechselnde Züge. In Attika ist die Grundstimmung die einer pietätvollen Vertraulichkeit; in Lakonien, in Böotien 1) treten uns höher gesteigerte Vorstellungen vom Dasein der Abgeschiedenen entgegen. Anderswo, wie in Lokris, auf der Insel Keos 2), scheint nur eine sehr abgeschwächte Weise des 1) In Böotien (wie sonst namentlich in Thessalien) ist die Bezeich- nung des Todten als ἥρως, welche immer eine höhere Auffassung seines Geisterdaseins ausdrückt, besonders häufig auf Grabsteinen anzutreffen. Hiervon Genaueres weiter unten. Die Inschriften sind meist jungen Datums. Aber schon im 5. Jahrhundert (allenfalls Anfang des 4.) war Heroisirung gewöhnlicher Todten in Theben verbreitete Sitte, auf die Platon der Komiker im „Menelaos“ anspielte: τί οὐκ ἀπήγξω, ἵνα Θήβησιν ἥρως γένῃ; (Zenob. 6, 17 u. a. Mit der thebanischen Sitte, Selbstmördern die Todtenehren zu verweigern, bringen die Paroemiographen Platons Wort unpassend und gegen dessen Absicht in Verbindung. Treffend ur- theilt Keil, Syll. inscr. Boeot. p. 153.) 2) Bei den epizephyrischen Lokrern ὀδύρεσϑαι οὐκ ἔστιν ἐπὶ τοῖς τελευ- τήσασιν, ἀλλ̕ ἐπειδὰν ἐκκομίσωσιν, ἐυωχοῦνται. Ps. heraclid. polit. 30, 2. Bei den Einwohnern von Keos legen die Männer keine Trauerzeichen an; die Frauen freilich trauern um einen jung gestorbenen Sohn ein Jahr lang. Ders. 9, 4 (s. Welcker, Kl. Schr. 2, 502). Die nach athenischem Muster erlassene Leichenordnung von Iulis lässt allerdings bei dem Volke eher eine Neigung zu ausschweifender Trauerbezeigung voraussetzen.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/250>, abgerufen am 03.05.2024.