sie menschliche Augen nicht sehen können, er, der alles durch- schaut, erkennt als Geist die Geister und sieht sie thätig, wo der Mensch nur die Folgen ihrer Thätigkeit empfindet. So leitet er die Fragenden an, den wahren Grund ihrer Leiden zu heben, übernatürliche Ereignisse zu verstehen durch Aner- kennung und Verehrung der Macht eines der Unsichtbaren. Er ist dem Gläubigen, hier wie auf allen Gebieten religiösen Lebens, der "wahre Ausleger" 1), er deutet nur das wirklich Vorhandene, er schafft nichts Neues, wenn auch den Menschen die durch ihn ihnen zukommende Kunde völlig neu ist. Wir freilich werden fragen dürfen, welches Motiv die kluge delphi- sche Priesterschaft zu der Erschaffung und Erneuerung so vieler Heroendienste bewogen haben mag. In ihrer Begünstigung des Heroenglaubens ist unverkennbar System, wie durchweg in der Thätigkeit des Orakels auf religions-politischem Gebiete. War es Priesterpolitik, die sie hier, wie an so vielen anderen Stellen, möglichst viele Objecte des Glaubens und des Cultus aufzufinden und auszudenken bewog? Auf der immer weiteren Ausbreitung, dem immer tieferen Eindringen einer ängstlichen Scheu vor überall unsichtbar wirkenden Geistermächten, einer Superstition, wie sie Homers Zeitalter noch nicht kannte, be- ruhte zu einem grossen Theil die Macht des in diesem Wirr- sal dämonischer Wirkungen einzig leitenden Orakels, und man kann nicht verkennen, dass das Orakel diese Deisidämonie be- günstigt und an seinem Theil gross gezogen hat. Unzweifel- haft waren aber die Priester des Orakels selbst in dem Glauben ihrer Zeit befangen, auch den Heroenglauben theilten sie jeden- falls. Es wird ihnen ganz natürlich erschienen sein, wenn sie die in den ängstlichen Anfragen wegen der Ursachen von Pest und Dürre schon halb vorausgesetzte Herleitung des Unheils von der Thätigkeit eines zürnenden Heros mehr bestätigten als zu erdenken brauchten. Sie werden nur in den einzelnen
1) outos gar o theos peri ta toiauta pasin anthropois patrios exegetes en meso tes ges epi tou omphalou kathemenos exegeitai, nach dem Worte des Plato, Rep. 4, 427 C.
sie menschliche Augen nicht sehen können, er, der alles durch- schaut, erkennt als Geist die Geister und sieht sie thätig, wo der Mensch nur die Folgen ihrer Thätigkeit empfindet. So leitet er die Fragenden an, den wahren Grund ihrer Leiden zu heben, übernatürliche Ereignisse zu verstehen durch Aner- kennung und Verehrung der Macht eines der Unsichtbaren. Er ist dem Gläubigen, hier wie auf allen Gebieten religiösen Lebens, der „wahre Ausleger“ 1), er deutet nur das wirklich Vorhandene, er schafft nichts Neues, wenn auch den Menschen die durch ihn ihnen zukommende Kunde völlig neu ist. Wir freilich werden fragen dürfen, welches Motiv die kluge delphi- sche Priesterschaft zu der Erschaffung und Erneuerung so vieler Heroendienste bewogen haben mag. In ihrer Begünstigung des Heroenglaubens ist unverkennbar System, wie durchweg in der Thätigkeit des Orakels auf religions-politischem Gebiete. War es Priesterpolitik, die sie hier, wie an so vielen anderen Stellen, möglichst viele Objecte des Glaubens und des Cultus aufzufinden und auszudenken bewog? Auf der immer weiteren Ausbreitung, dem immer tieferen Eindringen einer ängstlichen Scheu vor überall unsichtbar wirkenden Geistermächten, einer Superstition, wie sie Homers Zeitalter noch nicht kannte, be- ruhte zu einem grossen Theil die Macht des in diesem Wirr- sal dämonischer Wirkungen einzig leitenden Orakels, und man kann nicht verkennen, dass das Orakel diese Deisidämonie be- günstigt und an seinem Theil gross gezogen hat. Unzweifel- haft waren aber die Priester des Orakels selbst in dem Glauben ihrer Zeit befangen, auch den Heroenglauben theilten sie jeden- falls. Es wird ihnen ganz natürlich erschienen sein, wenn sie die in den ängstlichen Anfragen wegen der Ursachen von Pest und Dürre schon halb vorausgesetzte Herleitung des Unheils von der Thätigkeit eines zürnenden Heros mehr bestätigten als zu erdenken brauchten. Sie werden nur in den einzelnen
1) οὗτος γὰρ ὁ ϑεὸς περὶ τὰ τοιαῦτα πᾶσιν ἀνϑρώποις πάτριος ἐξηγητὴς ἐν μέσῳ τῆς γῆς ἐπὶ τοῦ ὀμφάλου καϑήμενος ἐξηγεῖται, nach dem Worte des Plato, Rep. 4, 427 C.
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schaut, erkennt als Geist die Geister und sieht sie thätig, wo
der Mensch nur die Folgen ihrer Thätigkeit empfindet. So
leitet er die Fragenden an, den wahren Grund ihrer Leiden
zu heben, übernatürliche Ereignisse zu verstehen durch Aner-
kennung und Verehrung der Macht eines der Unsichtbaren.
Er ist dem Gläubigen, hier wie auf allen Gebieten religiösen
Lebens, der „wahre Ausleger“ 1), er deutet nur das wirklich
Vorhandene, er schafft nichts Neues, wenn auch den Menschen
die durch ihn ihnen zukommende Kunde völlig neu ist. Wir
freilich werden fragen dürfen, welches Motiv die kluge delphi-
sche Priesterschaft zu der Erschaffung und Erneuerung so vieler
Heroendienste bewogen haben mag. In ihrer Begünstigung
des Heroenglaubens ist unverkennbar System, wie durchweg
in der Thätigkeit des Orakels auf religions-politischem Gebiete.
War es Priesterpolitik, die sie hier, wie an so vielen anderen
Stellen, möglichst viele Objecte des Glaubens und des Cultus
aufzufinden und auszudenken bewog? Auf der immer weiteren
Ausbreitung, dem immer tieferen Eindringen einer ängstlichen
Scheu vor überall unsichtbar wirkenden Geistermächten, einer
Superstition, wie sie Homers Zeitalter noch nicht kannte, be-
ruhte zu einem grossen Theil die Macht des in diesem Wirr-
sal dämonischer Wirkungen einzig leitenden Orakels, und man
kann nicht verkennen, dass das Orakel diese Deisidämonie be-
günstigt und an seinem Theil gross gezogen hat. Unzweifel-
haft waren aber die Priester des Orakels selbst in dem Glauben
ihrer Zeit befangen, auch den Heroenglauben theilten sie jeden-
falls. Es wird ihnen ganz natürlich erschienen sein, wenn sie
die in den ängstlichen Anfragen wegen der Ursachen von Pest
und Dürre schon halb vorausgesetzte Herleitung des Unheils
von der Thätigkeit eines zürnenden Heros mehr bestätigten
als zu erdenken brauchten. Sie werden nur in den einzelnen
1) οὗτος γὰρ ὁ ϑεὸς περὶ τὰ τοιαῦτα πᾶσιν ἀνϑρώποις πάτριος ἐξηγητὴς
ἐν μέσῳ τῆς γῆς ἐπὶ τοῦ ὀμφάλου καϑήμενος ἐξηγεῖται, nach dem Worte
des Plato, Rep. 4, 427 C.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/185>, abgerufen am 23.11.2024.
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