des Lebens in seinen einzelnen Wechselfällen, ja nach seiner gesammten Anlage, denn so haben es ja die Götter beschieden den armen Menschen, in Mühsal und Leid zu leben, sie selber aber sind frei von Kummer. Aber von dem Leben im Ganzen sich abzuwenden, kommt keinem homerischen Menschen in den Sinn. Von dem Glück und der Freudigkeit des Lebens wird nur darum nicht ausdrücklich geredet, weil sich das von selbst versteht bei einem rüstigen, in aufwärts steigender Bewegung begriffenen Volke, in wenig verschlungenen Verhältnissen, in denen die Bedingungen des Glückes in Thätigkeit und Genuss dem Starken leicht zufallen. Und freilich, nur für die Starken, Klugen und Mächtigen ist diese homerische Welt eingerichtet. Leben und Dasein auf dieser Erde ist ihnen so gewiss ein Gut, als es zur Erreichung aller einzelnen Güter unentbehrliche Bedingung ist. Denn der Tod, der Zustand, der nach dem Leben folgen mag, -- es ist keine Gefahr, dass man ihn mit dem Leben verwechsle. "Wolle mir doch den Tod nicht weg- reden", so würde, wie Achill im Hades dem Odysseus, der home- rische Mensch jenem grübelnden Dichter antworten, wenn er ihm den Zustand nach Ablauf des Erdenlebens als das wahre Leben vorspiegeln wollte. Nichts ist dem Menschen so ver- hasst wie der Tod und die Thore des Hades. Denn eben das Leben, dieses liebe Leben im Sonnenlichte, ist sicher dahin mit dem Tode, mag nun folgen was will.
2.
Aber was folgt nun? Was geschieht, wenn das Leben für immer aus dem entseelten Leibe entweicht?
Befremdlich ist es, dass neuerdings hat behauptet werden können 1), es zeige sich auf irgend einer Stufe der Entwicklung homerischer Dichtung der Glaube, dass mit dem Augenblick des Todes Alles zu Ende sei, nichts den Tod überdaure. Keine Aussage in den beiden homerischen Gedichten (etwa in deren ältesten Theilen, wie man meint), auch nicht ein beredtes Still-
1) E. Kammer, Die Einheit der Odyssee, S. 510 ff.
des Lebens in seinen einzelnen Wechselfällen, ja nach seiner gesammten Anlage, denn so haben es ja die Götter beschieden den armen Menschen, in Mühsal und Leid zu leben, sie selber aber sind frei von Kummer. Aber von dem Leben im Ganzen sich abzuwenden, kommt keinem homerischen Menschen in den Sinn. Von dem Glück und der Freudigkeit des Lebens wird nur darum nicht ausdrücklich geredet, weil sich das von selbst versteht bei einem rüstigen, in aufwärts steigender Bewegung begriffenen Volke, in wenig verschlungenen Verhältnissen, in denen die Bedingungen des Glückes in Thätigkeit und Genuss dem Starken leicht zufallen. Und freilich, nur für die Starken, Klugen und Mächtigen ist diese homerische Welt eingerichtet. Leben und Dasein auf dieser Erde ist ihnen so gewiss ein Gut, als es zur Erreichung aller einzelnen Güter unentbehrliche Bedingung ist. Denn der Tod, der Zustand, der nach dem Leben folgen mag, — es ist keine Gefahr, dass man ihn mit dem Leben verwechsle. „Wolle mir doch den Tod nicht weg- reden“, so würde, wie Achill im Hades dem Odysseus, der home- rische Mensch jenem grübelnden Dichter antworten, wenn er ihm den Zustand nach Ablauf des Erdenlebens als das wahre Leben vorspiegeln wollte. Nichts ist dem Menschen so ver- hasst wie der Tod und die Thore des Hades. Denn eben das Leben, dieses liebe Leben im Sonnenlichte, ist sicher dahin mit dem Tode, mag nun folgen was will.
2.
Aber was folgt nun? Was geschieht, wenn das Leben für immer aus dem entseelten Leibe entweicht?
Befremdlich ist es, dass neuerdings hat behauptet werden können 1), es zeige sich auf irgend einer Stufe der Entwicklung homerischer Dichtung der Glaube, dass mit dem Augenblick des Todes Alles zu Ende sei, nichts den Tod überdaure. Keine Aussage in den beiden homerischen Gedichten (etwa in deren ältesten Theilen, wie man meint), auch nicht ein beredtes Still-
1) E. Kammer, Die Einheit der Odyssee, S. 510 ff.
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des Lebens in seinen einzelnen Wechselfällen, ja nach seiner
gesammten Anlage, denn so haben es ja die Götter beschieden
den armen Menschen, in Mühsal und Leid zu leben, sie selber
aber sind frei von Kummer. Aber von dem Leben im Ganzen
sich abzuwenden, kommt keinem homerischen Menschen in den
Sinn. Von dem Glück und der Freudigkeit des Lebens wird
nur darum nicht ausdrücklich geredet, weil sich das von selbst
versteht bei einem rüstigen, in aufwärts steigender Bewegung
begriffenen Volke, in wenig verschlungenen Verhältnissen, in
denen die Bedingungen des Glückes in Thätigkeit und Genuss
dem Starken leicht zufallen. Und freilich, nur für die Starken,
Klugen und Mächtigen ist diese homerische Welt eingerichtet.
Leben und Dasein auf dieser Erde ist ihnen so gewiss ein
Gut, als es zur Erreichung aller einzelnen Güter unentbehrliche
Bedingung ist. Denn der Tod, der Zustand, der nach dem
Leben folgen mag, — es ist keine Gefahr, dass man ihn mit
dem Leben verwechsle. „Wolle mir doch den Tod nicht weg-
reden“, so würde, wie Achill im Hades dem Odysseus, der home-
rische Mensch jenem grübelnden Dichter antworten, wenn er
ihm den Zustand nach Ablauf des Erdenlebens als das wahre
Leben vorspiegeln wollte. Nichts ist dem Menschen so ver-
hasst wie der Tod und die Thore des Hades. Denn eben das
Leben, dieses liebe Leben im Sonnenlichte, ist sicher dahin mit
dem Tode, mag nun folgen was will.
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Aber was folgt nun? Was geschieht, wenn das Leben
für immer aus dem entseelten Leibe entweicht?
Befremdlich ist es, dass neuerdings hat behauptet werden
können 1), es zeige sich auf irgend einer Stufe der Entwicklung
homerischer Dichtung der Glaube, dass mit dem Augenblick
des Todes Alles zu Ende sei, nichts den Tod überdaure. Keine
Aussage in den beiden homerischen Gedichten (etwa in deren
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1) E. Kammer, Die Einheit der Odyssee, S. 510 ff.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/18>, abgerufen am 21.11.2024.
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