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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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eine bestimmte Zeitdauer des Lebens beraubt, begegnet öfter
in Ueberlieferungen semitischer, auch bisweilen anderer nicht-
griechischer Völker 1). Was im Glauben dieser Völker solche
Sagen für einen tieferen, etwa allegorischen Sinn haben mögen,
bleibt hier dahingestellt: es ist kein Grund vorhanden, an Ein-
fluss derartiger fremdländischer Berichte auf griechische Sagen-
bildung zu denken. Auf griechischem Boden giebt die Ueber-
lieferung keinerlei Anlass zu der, neueren Mythologen geläufigen
Auslegung, wonach Tod und Begräbniss der Götter "das Ab-
sterben der Natur" symbolisiren soll. Vor Augen liegt zu-
nächst, dass in der Sage vom Grabe des kretischen Zeus
das "Grab", welches einfach an die Stelle der Höhle als
ewigen Aufenthaltes des ewig lebendigen Gottes tritt, in para-
doxem Ausdruck die unlösliche Gebundenheit an den Ort be-
zeichnet. Man erinnert sich leicht der nicht minder paradoxen
Berichte von dem Grabe eines Gottes in Delphi. Unter dem
Nabelstein (Omphalos) der Erdgöttin, einem kuppelförmigen,
an die Gestalt der uralten Kuppelgräber erinnernden Bauwerk
im Tempel des Apollo 2) lag ein göttliches Wesen begraben,
als welches gelehrtere Zeugen den Python, den Gegner des
Apollo, nur ein ganz unglaubwürdiger den Dionys nennen 3).

1) Vgl. Anhang 14.
2) Varro L. L. VII, p. 304 vergleicht die Gestalt des Omphalos
mit einem thesaurus, also einem jener gewölbten Bauten, die man als
Schatzhäuser zu bezeichnen pflegte, die aber, wie jetzt ja zweifellos fest-
steht, in Wahrheit Grabgewölbe waren. In kleinerem Maassstabe hatte also
(wie auch Vasenbilder erkennen lassen) der omphalos die Gestalt, die man
den Behausungen der erdhausenden Geister Abgeschiedener, aber auch
der Wohnstätte anderer Erdgeister zu geben pflegte: auch das khasma
ges über der Höhle des Trophonios hatte diese Form: Paus. 9, 39, 10.
Ob solcher Kuppelbau vorzugsweise den mantischen unter den Erdgeistern
bestimmt war? -- Der delphische "Omphalos" bezeichnet eigentlich, mit
technischem Ausdruck, eben diese Tholosform; omphalos Ges heisst er, weil
der Erdgöttin geheiligt. Zum "Nabel" d. h. Mittelpunkt der Erde haben
ihn erst Missverständniss und daraus hervorgesponnene Fabeln gemacht.
3) Neuere nehmen z. Th. an, dass unter dem Omphalos das Grab
des Dionys liege: z. B. Enmann, Kypros u. d. Urspr. des Aphroditecultus
(Petersb. 1886) p. 47 ff. Aber bei genauerem Zusehen zeigt sich nur dies als

eine bestimmte Zeitdauer des Lebens beraubt, begegnet öfter
in Ueberlieferungen semitischer, auch bisweilen anderer nicht-
griechischer Völker 1). Was im Glauben dieser Völker solche
Sagen für einen tieferen, etwa allegorischen Sinn haben mögen,
bleibt hier dahingestellt: es ist kein Grund vorhanden, an Ein-
fluss derartiger fremdländischer Berichte auf griechische Sagen-
bildung zu denken. Auf griechischem Boden giebt die Ueber-
lieferung keinerlei Anlass zu der, neueren Mythologen geläufigen
Auslegung, wonach Tod und Begräbniss der Götter „das Ab-
sterben der Natur“ symbolisiren soll. Vor Augen liegt zu-
nächst, dass in der Sage vom Grabe des kretischen Zeus
das „Grab“, welches einfach an die Stelle der Höhle als
ewigen Aufenthaltes des ewig lebendigen Gottes tritt, in para-
doxem Ausdruck die unlösliche Gebundenheit an den Ort be-
zeichnet. Man erinnert sich leicht der nicht minder paradoxen
Berichte von dem Grabe eines Gottes in Delphi. Unter dem
Nabelstein (Omphalos) der Erdgöttin, einem kuppelförmigen,
an die Gestalt der uralten Kuppelgräber erinnernden Bauwerk
im Tempel des Apollo 2) lag ein göttliches Wesen begraben,
als welches gelehrtere Zeugen den Python, den Gegner des
Apollo, nur ein ganz unglaubwürdiger den Dionys nennen 3).

1) Vgl. Anhang 14.
2) Varro L. L. VII, p. 304 vergleicht die Gestalt des Omphalos
mit einem thesaurus, also einem jener gewölbten Bauten, die man als
Schatzhäuser zu bezeichnen pflegte, die aber, wie jetzt ja zweifellos fest-
steht, in Wahrheit Grabgewölbe waren. In kleinerem Maassstabe hatte also
(wie auch Vasenbilder erkennen lassen) der ὀμφαλός die Gestalt, die man
den Behausungen der erdhausenden Geister Abgeschiedener, aber auch
der Wohnstätte anderer Erdgeister zu geben pflegte: auch das χάσμα
γῆς über der Höhle des Trophonios hatte diese Form: Paus. 9, 39, 10.
Ob solcher Kuppelbau vorzugsweise den mantischen unter den Erdgeistern
bestimmt war? — Der delphische „Omphalos“ bezeichnet eigentlich, mit
technischem Ausdruck, eben diese Tholosform; ὀμφαλὸς Γῆς heisst er, weil
der Erdgöttin geheiligt. Zum „Nabel“ d. h. Mittelpunkt der Erde haben
ihn erst Missverständniss und daraus hervorgesponnene Fabeln gemacht.
3) Neuere nehmen z. Th. an, dass unter dem Omphalos das Grab
des Dionys liege: z. B. Enmann, Kypros u. d. Urspr. des Aphroditecultus
(Petersb. 1886) p. 47 ff. Aber bei genauerem Zusehen zeigt sich nur dies als
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[123/0139] eine bestimmte Zeitdauer des Lebens beraubt, begegnet öfter in Ueberlieferungen semitischer, auch bisweilen anderer nicht- griechischer Völker 1). Was im Glauben dieser Völker solche Sagen für einen tieferen, etwa allegorischen Sinn haben mögen, bleibt hier dahingestellt: es ist kein Grund vorhanden, an Ein- fluss derartiger fremdländischer Berichte auf griechische Sagen- bildung zu denken. Auf griechischem Boden giebt die Ueber- lieferung keinerlei Anlass zu der, neueren Mythologen geläufigen Auslegung, wonach Tod und Begräbniss der Götter „das Ab- sterben der Natur“ symbolisiren soll. Vor Augen liegt zu- nächst, dass in der Sage vom Grabe des kretischen Zeus das „Grab“, welches einfach an die Stelle der Höhle als ewigen Aufenthaltes des ewig lebendigen Gottes tritt, in para- doxem Ausdruck die unlösliche Gebundenheit an den Ort be- zeichnet. Man erinnert sich leicht der nicht minder paradoxen Berichte von dem Grabe eines Gottes in Delphi. Unter dem Nabelstein (Omphalos) der Erdgöttin, einem kuppelförmigen, an die Gestalt der uralten Kuppelgräber erinnernden Bauwerk im Tempel des Apollo 2) lag ein göttliches Wesen begraben, als welches gelehrtere Zeugen den Python, den Gegner des Apollo, nur ein ganz unglaubwürdiger den Dionys nennen 3). 1) Vgl. Anhang 14. 2) Varro L. L. VII, p. 304 vergleicht die Gestalt des Omphalos mit einem thesaurus, also einem jener gewölbten Bauten, die man als Schatzhäuser zu bezeichnen pflegte, die aber, wie jetzt ja zweifellos fest- steht, in Wahrheit Grabgewölbe waren. In kleinerem Maassstabe hatte also (wie auch Vasenbilder erkennen lassen) der ὀμφαλός die Gestalt, die man den Behausungen der erdhausenden Geister Abgeschiedener, aber auch der Wohnstätte anderer Erdgeister zu geben pflegte: auch das χάσμα γῆς über der Höhle des Trophonios hatte diese Form: Paus. 9, 39, 10. Ob solcher Kuppelbau vorzugsweise den mantischen unter den Erdgeistern bestimmt war? — Der delphische „Omphalos“ bezeichnet eigentlich, mit technischem Ausdruck, eben diese Tholosform; ὀμφαλὸς Γῆς heisst er, weil der Erdgöttin geheiligt. Zum „Nabel“ d. h. Mittelpunkt der Erde haben ihn erst Missverständniss und daraus hervorgesponnene Fabeln gemacht. 3) Neuere nehmen z. Th. an, dass unter dem Omphalos das Grab des Dionys liege: z. B. Enmann, Kypros u. d. Urspr. des Aphroditecultus (Petersb. 1886) p. 47 ff. Aber bei genauerem Zusehen zeigt sich nur dies als

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/139>, abgerufen am 22.11.2024.