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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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ort der Abgeschiedenen. Sie haben ihr Reich für sich, fern
vom Hause des Aidoneus. Solche Absonderung einzelner Unter-
irdischen passt nicht zu homerischen Vorstellungen. Fast scheint
es, als ob ein leiser Nachklang der Sagen von lebend und mit
unversehrtem Bewusstsein entrückten Sehern, wie Amphiaraos,
Amphilochos, hörbar werde in der Erzählung der homerischen
Nekyia von Tiresias, dem thebanischen Seher, dem allein
unter den Schatten Persephone Bewusstsein und Verstand
(also eigentlich die Lebenskräfte) gelassen hatte 1). Aber auch
ihn hält das allgemeine Todtenreich des Erebos fest, von aller
Verbindung mit der Oberwelt ist er abgeschnitten: so will es
homerische Weltordnung. Amphiaraos dagegen und Trophonios
sind dem Hades entzogen; wie sie nicht gestorben sind, so
sind sie auch nicht in das Reich der kraftlosen Seelen einge-
gangen. Auch sie sind dem Leben (aber auch dem Hades)
entrückt. Aber diese Höhlenentrückung ist in ihrem
Wesen wie in ihrem Glaubensursprung sehr verschieden von
der Inselentrückung, von der wir im vorigen Abschnitt geredet
haben. Jene, einzeln oder in Gesellschaft auf seligen Eilanden

1) Od. k. 492 ff. psukhe khresomenos Thebaiou Teiresiao, manteos alaou,
tou te phrenes empedoi eisin ; to kai tethneoti noon pore Persephoneia, oio pepnus-
thai ; toi de skiai aissousin. Wenn seine phrenes unversehrt sind, so fehlt
eigentlich das wesentlichste Merkmal des Gestorbenseins. Freilich ist sein
Leib aufgelöst, darum heisst er auch tethneos wie alle anderen Hades-
bewohner; es ist nur unfassbar, wie ohne den Leib die phrenes bestehen
können. Höchst wahrscheinlich ist die Vorstellung von dem Fortbestehen
des Bewusstseins des, aus der thebanischen Sage berühmten Sehers dem
Dichter aus einer volksthümlichen Ueberlieferung entstanden, nach welcher
Tiresias die Helligkeit seines Geistes auch nach seinem Abscheiden noch
durch Orakel bewährte, die er aus der Erde heraufsandte. In Orcho-
menos bestand (woran schon Nitzsch, Anm. zur Od. III p. 151 erinnert)
ein khresterion Teiresiou: Plut. def. orac. 44, p. 434 C., und zwar nach
dem Zusammenhang, in welchem Plutarch von ihm redet, zu schliessen,
offenbar ein Erdorakel, d. h. ein Incubationsorakel. Dort mag man von
Tiresias und seinem Fortleben Aehnliches erzählt haben wie bei Theben
von Amphiaraos. Eine derartige Kunde könnte dann der Dichter der
Nekyia für seine Zwecke umgebildet und verwendet haben. Nicht ohne
Grund stellt jene von Tiresias handelnden Verse mit der Sage von Am-
phiaraos und Trophonios zusammen Strabo XVI p. 762.

ort der Abgeschiedenen. Sie haben ihr Reich für sich, fern
vom Hause des Aïdoneus. Solche Absonderung einzelner Unter-
irdischen passt nicht zu homerischen Vorstellungen. Fast scheint
es, als ob ein leiser Nachklang der Sagen von lebend und mit
unversehrtem Bewusstsein entrückten Sehern, wie Amphiaraos,
Amphilochos, hörbar werde in der Erzählung der homerischen
Nekyia von Tiresias, dem thebanischen Seher, dem allein
unter den Schatten Persephone Bewusstsein und Verstand
(also eigentlich die Lebenskräfte) gelassen hatte 1). Aber auch
ihn hält das allgemeine Todtenreich des Erebos fest, von aller
Verbindung mit der Oberwelt ist er abgeschnitten: so will es
homerische Weltordnung. Amphiaraos dagegen und Trophonios
sind dem Hades entzogen; wie sie nicht gestorben sind, so
sind sie auch nicht in das Reich der kraftlosen Seelen einge-
gangen. Auch sie sind dem Leben (aber auch dem Hades)
entrückt. Aber diese Höhlenentrückung ist in ihrem
Wesen wie in ihrem Glaubensursprung sehr verschieden von
der Inselentrückung, von der wir im vorigen Abschnitt geredet
haben. Jene, einzeln oder in Gesellschaft auf seligen Eilanden

1) Od. κ. 492 ff. ψυχῇ χρησόμενος Θηβαίου Τειρεσίαο, μάντηος ἀλαοῦ,
τοῦ τε φρένες ἔμπεδοί εἰσιν · τῷ καὶ τεϑνηῶτι νόον πόρε Περσεφόνεια, οἴῳ πεπνῦσ-
ϑαι · τοὶ δὲ σκιαὶ ἀΐσσουσιν. Wenn seine φρένες unversehrt sind, so fehlt
eigentlich das wesentlichste Merkmal des Gestorbenseins. Freilich ist sein
Leib aufgelöst, darum heisst er auch τεϑνηώς wie alle anderen Hades-
bewohner; es ist nur unfassbar, wie ohne den Leib die φρένες bestehen
können. Höchst wahrscheinlich ist die Vorstellung von dem Fortbestehen
des Bewusstseins des, aus der thebanischen Sage berühmten Sehers dem
Dichter aus einer volksthümlichen Ueberlieferung entstanden, nach welcher
Tiresias die Helligkeit seines Geistes auch nach seinem Abscheiden noch
durch Orakel bewährte, die er aus der Erde heraufsandte. In Orcho-
menos bestand (woran schon Nitzsch, Anm. zur Od. III p. 151 erinnert)
ein χρηστήριον Τειρεσίου: Plut. def. orac. 44, p. 434 C., und zwar nach
dem Zusammenhang, in welchem Plutarch von ihm redet, zu schliessen,
offenbar ein Erdorakel, d. h. ein Incubationsorakel. Dort mag man von
Tiresias und seinem Fortleben Aehnliches erzählt haben wie bei Theben
von Amphiaraos. Eine derartige Kunde könnte dann der Dichter der
Nekyia für seine Zwecke umgebildet und verwendet haben. Nicht ohne
Grund stellt jene von Tiresias handelnden Verse mit der Sage von Am-
phiaraos und Trophonios zusammen Strabo XVI p. 762.
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[110/0126] ort der Abgeschiedenen. Sie haben ihr Reich für sich, fern vom Hause des Aïdoneus. Solche Absonderung einzelner Unter- irdischen passt nicht zu homerischen Vorstellungen. Fast scheint es, als ob ein leiser Nachklang der Sagen von lebend und mit unversehrtem Bewusstsein entrückten Sehern, wie Amphiaraos, Amphilochos, hörbar werde in der Erzählung der homerischen Nekyia von Tiresias, dem thebanischen Seher, dem allein unter den Schatten Persephone Bewusstsein und Verstand (also eigentlich die Lebenskräfte) gelassen hatte 1). Aber auch ihn hält das allgemeine Todtenreich des Erebos fest, von aller Verbindung mit der Oberwelt ist er abgeschnitten: so will es homerische Weltordnung. Amphiaraos dagegen und Trophonios sind dem Hades entzogen; wie sie nicht gestorben sind, so sind sie auch nicht in das Reich der kraftlosen Seelen einge- gangen. Auch sie sind dem Leben (aber auch dem Hades) entrückt. Aber diese Höhlenentrückung ist in ihrem Wesen wie in ihrem Glaubensursprung sehr verschieden von der Inselentrückung, von der wir im vorigen Abschnitt geredet haben. Jene, einzeln oder in Gesellschaft auf seligen Eilanden 1) Od. κ. 492 ff. ψυχῇ χρησόμενος Θηβαίου Τειρεσίαο, μάντηος ἀλαοῦ, τοῦ τε φρένες ἔμπεδοί εἰσιν · τῷ καὶ τεϑνηῶτι νόον πόρε Περσεφόνεια, οἴῳ πεπνῦσ- ϑαι · τοὶ δὲ σκιαὶ ἀΐσσουσιν. Wenn seine φρένες unversehrt sind, so fehlt eigentlich das wesentlichste Merkmal des Gestorbenseins. Freilich ist sein Leib aufgelöst, darum heisst er auch τεϑνηώς wie alle anderen Hades- bewohner; es ist nur unfassbar, wie ohne den Leib die φρένες bestehen können. Höchst wahrscheinlich ist die Vorstellung von dem Fortbestehen des Bewusstseins des, aus der thebanischen Sage berühmten Sehers dem Dichter aus einer volksthümlichen Ueberlieferung entstanden, nach welcher Tiresias die Helligkeit seines Geistes auch nach seinem Abscheiden noch durch Orakel bewährte, die er aus der Erde heraufsandte. In Orcho- menos bestand (woran schon Nitzsch, Anm. zur Od. III p. 151 erinnert) ein χρηστήριον Τειρεσίου: Plut. def. orac. 44, p. 434 C., und zwar nach dem Zusammenhang, in welchem Plutarch von ihm redet, zu schliessen, offenbar ein Erdorakel, d. h. ein Incubationsorakel. Dort mag man von Tiresias und seinem Fortleben Aehnliches erzählt haben wie bei Theben von Amphiaraos. Eine derartige Kunde könnte dann der Dichter der Nekyia für seine Zwecke umgebildet und verwendet haben. Nicht ohne Grund stellt jene von Tiresias handelnden Verse mit der Sage von Am- phiaraos und Trophonios zusammen Strabo XVI p. 762.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/126>, abgerufen am 25.11.2024.