Glauben an eine Erhöhung abgeschiedener Seelen, in ihrem Sonderdasein, zu mächtigen, bewusst wirkenden Geistern be- gründet war. Aber die Schaaren dieser Geister gewinnen keinen Zuwachs mehr aus der Gegenwart. Seit Langem ver- fallen die Seelen der Todten dem Hades und seinem nichtigen Schattenreiche. Der Seelencult stockt, er bezieht sich nur noch auf die vor langer Zeit Verstorbenen, er vermehrt die Gegenstände seiner Verehrung nicht. Das macht, der Glaube hat sich verändert: es herrscht die in den homerischen Gedichten ausgeprägte, durch sie bestätigte und gleichsam sanctionirte Vorstellung, dass der einmal vom Leibe getrennten Psyche Kraft und Bewusstsein entschwinde, ein fernes Höhlen- reich die machtlosen Schatten aufnehme, denen keine Wirk- samkeit, kein Hinüberwirken in das Reich der Lebenden mög- lich ist, und darum auch kein Cultus gewidmet werden kann. Nur am äussersten Horizont schimmern die Inseln der Seligen, aber der Kreis der dorthin, nach dichterisch phan- tastischer Vision, lebendig Entrückten ist abgeschlossen, wie der Kreis der Heldendichtung abgeschlossen ist. Die Gegen- wart sieht solche Wunder nicht mehr.
Es ist nichts, was dem aus den homerischen Gedichten von uns Erschlossenen widerspräche in dieser, aus der hesiodi- schen Darstellung deutlicher abzunehmenden Entwicklungsreihe. Nur dieses Eine ist neu und vor Allem bedeutsam: dass eine Erinnerung davon, wie einst doch die Seelen verstorbener Geschlechter der Menschen höheres, ewiges Leben erlangt haben, sich erhalten hat. Im Praesens redet Hesiod von ihrem Da- sein und Wirken, und von der Ehre, die ihnen folge: glaubt man sie unsterblich, so wird man sie natürlich auch fort- während weiter verehren. Und umgekehrt: dauerte die Ver- ehrung nicht noch in der Gegenwart fort, so würde man sie nicht für unvergänglich und ewig wirksam halten.
Wir sind im alten, im festländischen Griechenland, im Lande der böotischen Bauern und Ackerbürger, in abge- schlossenen Lebenskreisen, die von der Seefahrt, die in die
Glauben an eine Erhöhung abgeschiedener Seelen, in ihrem Sonderdasein, zu mächtigen, bewusst wirkenden Geistern be- gründet war. Aber die Schaaren dieser Geister gewinnen keinen Zuwachs mehr aus der Gegenwart. Seit Langem ver- fallen die Seelen der Todten dem Hades und seinem nichtigen Schattenreiche. Der Seelencult stockt, er bezieht sich nur noch auf die vor langer Zeit Verstorbenen, er vermehrt die Gegenstände seiner Verehrung nicht. Das macht, der Glaube hat sich verändert: es herrscht die in den homerischen Gedichten ausgeprägte, durch sie bestätigte und gleichsam sanctionirte Vorstellung, dass der einmal vom Leibe getrennten Psyche Kraft und Bewusstsein entschwinde, ein fernes Höhlen- reich die machtlosen Schatten aufnehme, denen keine Wirk- samkeit, kein Hinüberwirken in das Reich der Lebenden mög- lich ist, und darum auch kein Cultus gewidmet werden kann. Nur am äussersten Horizont schimmern die Inseln der Seligen, aber der Kreis der dorthin, nach dichterisch phan- tastischer Vision, lebendig Entrückten ist abgeschlossen, wie der Kreis der Heldendichtung abgeschlossen ist. Die Gegen- wart sieht solche Wunder nicht mehr.
Es ist nichts, was dem aus den homerischen Gedichten von uns Erschlossenen widerspräche in dieser, aus der hesiodi- schen Darstellung deutlicher abzunehmenden Entwicklungsreihe. Nur dieses Eine ist neu und vor Allem bedeutsam: dass eine Erinnerung davon, wie einst doch die Seelen verstorbener Geschlechter der Menschen höheres, ewiges Leben erlangt haben, sich erhalten hat. Im Praesens redet Hesiod von ihrem Da- sein und Wirken, und von der Ehre, die ihnen folge: glaubt man sie unsterblich, so wird man sie natürlich auch fort- während weiter verehren. Und umgekehrt: dauerte die Ver- ehrung nicht noch in der Gegenwart fort, so würde man sie nicht für unvergänglich und ewig wirksam halten.
Wir sind im alten, im festländischen Griechenland, im Lande der böotischen Bauern und Ackerbürger, in abge- schlossenen Lebenskreisen, die von der Seefahrt, die in die
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keinen Zuwachs mehr aus der Gegenwart. Seit Langem ver-
fallen die Seelen der Todten dem Hades und seinem nichtigen
Schattenreiche. Der Seelencult stockt, er bezieht sich nur
noch auf die vor langer Zeit Verstorbenen, er vermehrt die
Gegenstände seiner Verehrung nicht. Das macht, der Glaube
hat sich verändert: es herrscht die in den homerischen
Gedichten ausgeprägte, durch sie bestätigte und gleichsam
sanctionirte Vorstellung, dass der einmal vom Leibe getrennten
Psyche Kraft und Bewusstsein entschwinde, ein fernes Höhlen-
reich die machtlosen Schatten aufnehme, denen keine Wirk-
samkeit, kein Hinüberwirken in das Reich der Lebenden mög-
lich ist, und darum auch kein Cultus gewidmet werden kann.
Nur am äussersten Horizont schimmern die Inseln der
Seligen, aber der Kreis der dorthin, nach dichterisch phan-
tastischer Vision, lebendig Entrückten ist abgeschlossen, wie
der Kreis der Heldendichtung abgeschlossen ist. Die Gegen-
wart sieht solche Wunder nicht mehr.
Es ist nichts, was dem aus den homerischen Gedichten
von uns Erschlossenen widerspräche in dieser, aus der hesiodi-
schen Darstellung deutlicher abzunehmenden Entwicklungsreihe.
Nur dieses Eine ist neu und vor Allem bedeutsam: dass eine
Erinnerung davon, wie einst doch die Seelen verstorbener
Geschlechter der Menschen höheres, ewiges Leben erlangt haben,
sich erhalten hat. Im Praesens redet Hesiod von ihrem Da-
sein und Wirken, und von der Ehre, die ihnen folge: glaubt
man sie unsterblich, so wird man sie natürlich auch fort-
während weiter verehren. Und umgekehrt: dauerte die Ver-
ehrung nicht noch in der Gegenwart fort, so würde man sie
nicht für unvergänglich und ewig wirksam halten.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/118>, abgerufen am 21.11.2024.
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