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Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876.

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Ein ganzes Jahrhundert ging vorüber, bevor sich diese
Prophezeiung erfüllte, und auch in diesem fehlte es nicht an
Stimmen, welche die Nation zur Einkehr bei sich selbst und
zur Umkehr mahnten. Die einen faßten die tiefe Versumpfung
ihres geistigen und moralischen Lebens, die anderen die poli-
tischen Schäden, die Gebrechen und Mängel des staatlichen Or-
ganismus der Republik und ihrer einzelnen Institutionen über-
wiegend ins Auge. Zu den ersteren gehört der Fürst Jan
Jablonowski, Woiwode von Rußland (+ 1731), und Stephan
Garczynski, Woiwode von Posen, beide Senatoren der Repu-
blik; zu den letzteren Stanislaw Dunin Karwicki (um 1706) und
König Stanislaw Leszczynski 17331). Allen gemeinsam ist die
Offenheit, Ungeschminktheit, mit der sie die bestehenden Zustände
schildern; Jablonowski aber erscheint in seiner Schrift "Be-
denken ohne Bedenken", in welcher er rückhaltlos "die Sünden,
welche niemand für Sünden hält", und die eben daher die
allgemeinsten waren, aufdeckt, mehr als Satyriker, wie als
Moralist, während Garczynski in seiner "Anatomie" (1751)
auf das erregteste "warnen und bessern" will. Eben so stimmen
auch die Politiker wesentlich sowohl darin überein, in welchen
Institutionen die Quelle des politischen Verfalls der Republik
hauptsächlich liege, als auch meistentheils darin, welche Heil-
mittel sie vorschlagen. Aber bei alledem besteht dennoch ein
wesentlicher Unterschied zwischen den letzten Zielen, welche Kar-
wicki auf der einen, Leszczynski auf der anderen Seite, auf-
stellen und erstreben. Karwicki, von dem Grundgedanken aus-
gehend, daß die Principien der Monarchie, Aristokratie und
Demokratie in einem unversöhnbaren Gegensatz ständen, und
daß daher alles Unheil der Republik, alle Unruhe und Ver-
wirrung von der Mischung jener drei Staatsformen in ihrem

Narodu Polskiego. Wroclawin 1835. II, p. 260. A. Waleski,
Historya wyzwolonej rzeczypospolitej, wpadajacej pod jarzmo domowe
za panowania Jana Kazimierza. Krakow 1872. II, p. 274 sqq.
1) Von Stanislaw Konarski in seinem kurz vor dem Ausgang der
sächsischen Epoche (1760) erschienenen Buch O skutecznym rad sposobie
(über eine fruchtreiche Art der Berathungen) wird später zu sprechen sein.

Ein ganzes Jahrhundert ging vorüber, bevor ſich dieſe
Prophezeiung erfüllte, und auch in dieſem fehlte es nicht an
Stimmen, welche die Nation zur Einkehr bei ſich ſelbſt und
zur Umkehr mahnten. Die einen faßten die tiefe Verſumpfung
ihres geiſtigen und moraliſchen Lebens, die anderen die poli-
tiſchen Schäden, die Gebrechen und Mängel des ſtaatlichen Or-
ganismus der Republik und ihrer einzelnen Inſtitutionen über-
wiegend ins Auge. Zu den erſteren gehört der Fürſt Jan
Jablonowski, Woiwode von Rußland († 1731), und Stephan
Garczynski, Woiwode von Poſen, beide Senatoren der Repu-
blik; zu den letzteren Stanislaw Dunin Karwicki (um 1706) und
König Stanislaw Leszczynski 17331). Allen gemeinſam iſt die
Offenheit, Ungeſchminktheit, mit der ſie die beſtehenden Zuſtände
ſchildern; Jablonowski aber erſcheint in ſeiner Schrift „Be-
denken ohne Bedenken“, in welcher er rückhaltlos „die Sünden,
welche niemand für Sünden hält“, und die eben daher die
allgemeinſten waren, aufdeckt, mehr als Satyriker, wie als
Moraliſt, während Garczynski in ſeiner „Anatomie“ (1751)
auf das erregteſte „warnen und beſſern“ will. Eben ſo ſtimmen
auch die Politiker weſentlich ſowohl darin überein, in welchen
Inſtitutionen die Quelle des politiſchen Verfalls der Republik
hauptſächlich liege, als auch meiſtentheils darin, welche Heil-
mittel ſie vorſchlagen. Aber bei alledem beſteht dennoch ein
weſentlicher Unterſchied zwiſchen den letzten Zielen, welche Kar-
wicki auf der einen, Leszczynski auf der anderen Seite, auf-
ſtellen und erſtreben. Karwicki, von dem Grundgedanken aus-
gehend, daß die Principien der Monarchie, Ariſtokratie und
Demokratie in einem unverſöhnbaren Gegenſatz ſtänden, und
daß daher alles Unheil der Republik, alle Unruhe und Ver-
wirrung von der Miſchung jener drei Staatsformen in ihrem

Narodu Polskiego. Wroclawin 1835. II, p. 260. A. Waleski,
Historya wyzwolonej rzeczypospolitej, wpadającej pod jarz̀mo domowe
za panowania Jana Kazimierza. Krakow 1872. II, p. 274 sqq.
1) Von Stanislaw Konarski in ſeinem kurz vor dem Ausgang der
ſächſiſchen Epoche (1760) erſchienenen Buch O skutecznym rad sposobie
(über eine fruchtreiche Art der Berathungen) wird ſpäter zu ſprechen ſein.
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[27/0041] Ein ganzes Jahrhundert ging vorüber, bevor ſich dieſe Prophezeiung erfüllte, und auch in dieſem fehlte es nicht an Stimmen, welche die Nation zur Einkehr bei ſich ſelbſt und zur Umkehr mahnten. Die einen faßten die tiefe Verſumpfung ihres geiſtigen und moraliſchen Lebens, die anderen die poli- tiſchen Schäden, die Gebrechen und Mängel des ſtaatlichen Or- ganismus der Republik und ihrer einzelnen Inſtitutionen über- wiegend ins Auge. Zu den erſteren gehört der Fürſt Jan Jablonowski, Woiwode von Rußland († 1731), und Stephan Garczynski, Woiwode von Poſen, beide Senatoren der Repu- blik; zu den letzteren Stanislaw Dunin Karwicki (um 1706) und König Stanislaw Leszczynski 1733 1). Allen gemeinſam iſt die Offenheit, Ungeſchminktheit, mit der ſie die beſtehenden Zuſtände ſchildern; Jablonowski aber erſcheint in ſeiner Schrift „Be- denken ohne Bedenken“, in welcher er rückhaltlos „die Sünden, welche niemand für Sünden hält“, und die eben daher die allgemeinſten waren, aufdeckt, mehr als Satyriker, wie als Moraliſt, während Garczynski in ſeiner „Anatomie“ (1751) auf das erregteſte „warnen und beſſern“ will. Eben ſo ſtimmen auch die Politiker weſentlich ſowohl darin überein, in welchen Inſtitutionen die Quelle des politiſchen Verfalls der Republik hauptſächlich liege, als auch meiſtentheils darin, welche Heil- mittel ſie vorſchlagen. Aber bei alledem beſteht dennoch ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen den letzten Zielen, welche Kar- wicki auf der einen, Leszczynski auf der anderen Seite, auf- ſtellen und erſtreben. Karwicki, von dem Grundgedanken aus- gehend, daß die Principien der Monarchie, Ariſtokratie und Demokratie in einem unverſöhnbaren Gegenſatz ſtänden, und daß daher alles Unheil der Republik, alle Unruhe und Ver- wirrung von der Miſchung jener drei Staatsformen in ihrem 1) 1) Von Stanislaw Konarski in ſeinem kurz vor dem Ausgang der ſächſiſchen Epoche (1760) erſchienenen Buch O skutecznym rad sposobie (über eine fruchtreiche Art der Berathungen) wird ſpäter zu ſprechen ſein. 1) Narodu Polskiego. Wroclawin 1835. II, p. 260. A. Waleski, Historya wyzwolonej rzeczypospolitej, wpadającej pod jarz̀mo domowe za panowania Jana Kazimierza. Krakow 1872. II, p. 274 sqq.

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Zitationshilfe: Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roepell_polen_1876/41>, abgerufen am 25.04.2024.