einem Tage zum andern; die Bauern in fürchterlicher Ver- sunkenheit, Unterdrückung und Noth; die Städte in Trümmern und verarmt, ohne Gewerbe und Handel; Erziehung und Un- terricht in der gröbsten Vernachläßigung; Schulen und Uni- versitäten in den Händen einer unwissenden weltlichen und Ordens-Geistlichkeit, welche sich zu keiner lebendigen Theil- nahme an dem Fortschritte der Wissenschaften und Kennt- nisse ihrer Zeit zu erheben vermochte; das religiöse Leben in äußeren Formen und bigotter Devotion erstarrt, und endlich bei alledem der naive Glaube, daß jeder polnische Edelmann der freiste Mann auf der Welt sei, und die Republik durch ihre Anarchie bestehe.
In der That und Wahrheit aber hatte diese Republik, seitdem das Zerreißen der Reichstage herkömmlich geworden, keine Macht mehr, über sich selbst zu bestimmen, einen Willen zu haben. Sie hatte factisch so gut wie keine Gesetzgebung, keine Verwaltung und Regierung mehr. Ihre Finanzen lagen in der tiefsten Unordnung, denn niemand nahm Anstoß daran, sie um die Steuern zu betrügen, und die Schatzmeister unter- lagen, da die Reichstage, welchen allein sie Rechnung zu legen verpflichtet waren, in der Regel zerrissen wurden, keiner Con- trolle. Die kleine Armee, oft genug unbezahlt, war eben des- halb ohne Zucht, ohne Übung, in halber Auflösung; die Ge- richte eine Verspottung jeder Gerechtigkeit. An der Stelle von Recht und Pflicht herrschten Willkühr und Gewalt in allen Schichten und Sphären des Lebens, und den Schutz, welchen der Staat allen gleich gewähren sollte, suchten und fanden die Einen in der eignen Familienmacht und ihrem Reichthum, die Andern in der Dienstbarkeit bei jenen und in deren Protection.
Mit einem Wort: die Republik war den Interessen, In- triguen und Partheikämpfen ihrer großen "Herren" und der Nachbarmächte widerstandslos dahingegeben; denn an die letztern sich anzuschließen, um deren Schutz und Unterstützung gegen ihre Gegner und ihren König zu bitten und zu buhlen, von ihnen Orden und Pensionen zu nehmen, waren die "Herren"
einem Tage zum andern; die Bauern in fürchterlicher Ver- ſunkenheit, Unterdrückung und Noth; die Städte in Trümmern und verarmt, ohne Gewerbe und Handel; Erziehung und Un- terricht in der gröbſten Vernachläßigung; Schulen und Uni- verſitäten in den Händen einer unwiſſenden weltlichen und Ordens-Geiſtlichkeit, welche ſich zu keiner lebendigen Theil- nahme an dem Fortſchritte der Wiſſenſchaften und Kennt- niſſe ihrer Zeit zu erheben vermochte; das religiöſe Leben in äußeren Formen und bigotter Devotion erſtarrt, und endlich bei alledem der naive Glaube, daß jeder polniſche Edelmann der freiſte Mann auf der Welt ſei, und die Republik durch ihre Anarchie beſtehe.
In der That und Wahrheit aber hatte dieſe Republik, ſeitdem das Zerreißen der Reichstage herkömmlich geworden, keine Macht mehr, über ſich ſelbſt zu beſtimmen, einen Willen zu haben. Sie hatte factiſch ſo gut wie keine Geſetzgebung, keine Verwaltung und Regierung mehr. Ihre Finanzen lagen in der tiefſten Unordnung, denn niemand nahm Anſtoß daran, ſie um die Steuern zu betrügen, und die Schatzmeiſter unter- lagen, da die Reichstage, welchen allein ſie Rechnung zu legen verpflichtet waren, in der Regel zerriſſen wurden, keiner Con- trolle. Die kleine Armee, oft genug unbezahlt, war eben des- halb ohne Zucht, ohne Übung, in halber Auflöſung; die Ge- richte eine Verſpottung jeder Gerechtigkeit. An der Stelle von Recht und Pflicht herrſchten Willkühr und Gewalt in allen Schichten und Sphären des Lebens, und den Schutz, welchen der Staat allen gleich gewähren ſollte, ſuchten und fanden die Einen in der eignen Familienmacht und ihrem Reichthum, die Andern in der Dienſtbarkeit bei jenen und in deren Protection.
Mit einem Wort: die Republik war den Intereſſen, In- triguen und Partheikämpfen ihrer großen „Herren“ und der Nachbarmächte widerſtandslos dahingegeben; denn an die letztern ſich anzuſchließen, um deren Schutz und Unterſtützung gegen ihre Gegner und ihren König zu bitten und zu buhlen, von ihnen Orden und Penſionen zu nehmen, waren die „Herren“
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einem Tage zum andern; die Bauern in fürchterlicher Ver-
ſunkenheit, Unterdrückung und Noth; die Städte in Trümmern
und verarmt, ohne Gewerbe und Handel; Erziehung und Un-
terricht in der gröbſten Vernachläßigung; Schulen und Uni-
verſitäten in den Händen einer unwiſſenden weltlichen und
Ordens-Geiſtlichkeit, welche ſich zu keiner lebendigen Theil-
nahme an dem Fortſchritte der Wiſſenſchaften und Kennt-
niſſe ihrer Zeit zu erheben vermochte; das religiöſe Leben in
äußeren Formen und bigotter Devotion erſtarrt, und endlich
bei alledem der naive Glaube, daß jeder polniſche Edelmann
der freiſte Mann auf der Welt ſei, und die Republik durch
ihre Anarchie beſtehe.
In der That und Wahrheit aber hatte dieſe Republik,
ſeitdem das Zerreißen der Reichstage herkömmlich geworden,
keine Macht mehr, über ſich ſelbſt zu beſtimmen, einen Willen
zu haben. Sie hatte factiſch ſo gut wie keine Geſetzgebung,
keine Verwaltung und Regierung mehr. Ihre Finanzen lagen
in der tiefſten Unordnung, denn niemand nahm Anſtoß daran,
ſie um die Steuern zu betrügen, und die Schatzmeiſter unter-
lagen, da die Reichstage, welchen allein ſie Rechnung zu legen
verpflichtet waren, in der Regel zerriſſen wurden, keiner Con-
trolle. Die kleine Armee, oft genug unbezahlt, war eben des-
halb ohne Zucht, ohne Übung, in halber Auflöſung; die Ge-
richte eine Verſpottung jeder Gerechtigkeit. An der Stelle
von Recht und Pflicht herrſchten Willkühr und Gewalt in
allen Schichten und Sphären des Lebens, und den Schutz,
welchen der Staat allen gleich gewähren ſollte, ſuchten und
fanden die Einen in der eignen Familienmacht und ihrem
Reichthum, die Andern in der Dienſtbarkeit bei jenen und in
deren Protection.
Mit einem Wort: die Republik war den Intereſſen, In-
triguen und Partheikämpfen ihrer großen „Herren“ und der
Nachbarmächte widerſtandslos dahingegeben; denn an die letztern
ſich anzuſchließen, um deren Schutz und Unterſtützung gegen
ihre Gegner und ihren König zu bitten und zu buhlen, von
ihnen Orden und Penſionen zu nehmen, waren die „Herren“
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Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roepell_polen_1876/38>, abgerufen am 16.07.2024.
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