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Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876.

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stattzufinden pflegte, verschlossen fand -- der Bischof Massalski
war der Sohn des Feldherrn --, constituirte er das Tribunal
in dessen Sitzungssaal. Kein Anhänger der Czartoryski war
zugegen. Sie reichten ein protestirendes Manifest bei dem
Grodgericht ein: der Feldherr Massalski verweigerte dem Tri-
bunal die gewohnte Ehrenwache. Am folgenden Morgen ver-
breitete sich die Kunde, daß die Russen nächstens über die
Düna gehen würden. Ein russischer Offizier (Pußkin?) er-
klärte Radzivil, daß er nach dem Willen der Kaiserin be-
obachten werde, wie das Tribunal in Sachen der Gegenparthei
verfahren werde. Radzivil antwortete mit Würde, er sei nur
dem Könige und der Republik verantwortlich. An demselben
Tage wurden aus unbekannter Veranlassung in den Straßen
von Wilna mehrfache Schüsse gewechselt. Wie die Urtheile des
Tribunals in Processen der Gegenparthei ausfielen, kann man
sich leicht denken 1).

Ganz Lithauen stand sofort so zu sagen in Flammen. Jede
Parthei fürchtete von der andern jeden Augenblick überfallen
und gemißhandelt zu werden. Beide fingen an, sich zur Ver-
theidigung zu rüsten. Radzivil vermehrte seine Truppen und
die Zahl seiner "Weißhemden", während auf der andern Seite
Flemming, der Schwiegersohn des Kanzlers, unter dem Vor-
wande der Übung die seinigen um Terespol und Woljn zu-
sammenzog; um die Mitte Juni hatte er bereits 2 Mil-

1) Ich bin bei dieser Erzählung ausschließlich Szujski IV, 356--357
gefolgt, welcher sich für die Einzelheiten auf ungedruckte Briefe des Bi-
schofs Krasinski und Brzostowski an Mniszek beruft. Rulhiere II, 48
berichtet mehrfach abweichend. -- Die Czartoryski meldeten in ihrem Me-
morial vom 21. August nach Petersburg (Biblioteka Ossol., p. 19 und
Schmitt I, 369), daß das Tribunal einen Sielicki, der den Schädel
eines seiner von dem Chef der Radzivilschen Raufbolde, Wolodkowicz,
erschlagnen Leute, bei seiner Klage vorzeigte, zu einer Buße zu Gunsten
des Todschlägers verurtheilt habe. Das Andenken an Wolodkowicz hat
sich mit dem seines Herrn Radzivil in der Überlieferung bis heute er-
halten. Daß die schwersten Gewaltthaten von beiden Seiten in diesen
Partheikämpfen verübt wurden, ist notorisch. Ob der einzelne Fall wahr-
heitsgemäß uns berichtet ist oder nicht, ist daher völlig gleichgültig.

ſtattzufinden pflegte, verſchloſſen fand — der Biſchof Maſſalski
war der Sohn des Feldherrn —, conſtituirte er das Tribunal
in deſſen Sitzungsſaal. Kein Anhänger der Czartoryski war
zugegen. Sie reichten ein proteſtirendes Manifeſt bei dem
Grodgericht ein: der Feldherr Maſſalski verweigerte dem Tri-
bunal die gewohnte Ehrenwache. Am folgenden Morgen ver-
breitete ſich die Kunde, daß die Ruſſen nächſtens über die
Düna gehen würden. Ein ruſſiſcher Offizier (Puſzkin?) er-
klärte Radzivil, daß er nach dem Willen der Kaiſerin be-
obachten werde, wie das Tribunal in Sachen der Gegenparthei
verfahren werde. Radzivil antwortete mit Würde, er ſei nur
dem Könige und der Republik verantwortlich. An demſelben
Tage wurden aus unbekannter Veranlaſſung in den Straßen
von Wilna mehrfache Schüſſe gewechſelt. Wie die Urtheile des
Tribunals in Proceſſen der Gegenparthei ausfielen, kann man
ſich leicht denken 1).

Ganz Lithauen ſtand ſofort ſo zu ſagen in Flammen. Jede
Parthei fürchtete von der andern jeden Augenblick überfallen
und gemißhandelt zu werden. Beide fingen an, ſich zur Ver-
theidigung zu rüſten. Radzivil vermehrte ſeine Truppen und
die Zahl ſeiner „Weißhemden“, während auf der andern Seite
Flemming, der Schwiegerſohn des Kanzlers, unter dem Vor-
wande der Übung die ſeinigen um Terespol und Woljn zu-
ſammenzog; um die Mitte Juni hatte er bereits 2 Mil-

1) Ich bin bei dieſer Erzählung ausſchließlich Szujski IV, 356—357
gefolgt, welcher ſich für die Einzelheiten auf ungedruckte Briefe des Bi-
ſchofs Kraſinski und Brzoſtowski an Mniszek beruft. Rulhiere II, 48
berichtet mehrfach abweichend. — Die Czartoryski meldeten in ihrem Me-
morial vom 21. Auguſt nach Petersburg (Biblioteka Ossol., p. 19 und
Schmitt I, 369), daß das Tribunal einen Sielicki, der den Schädel
eines ſeiner von dem Chef der Radzivilſchen Raufbolde, Wolodkowicz,
erſchlagnen Leute, bei ſeiner Klage vorzeigte, zu einer Buße zu Gunſten
des Todſchlägers verurtheilt habe. Das Andenken an Wolodkowicz hat
ſich mit dem ſeines Herrn Radzivil in der Überlieferung bis heute er-
halten. Daß die ſchwerſten Gewaltthaten von beiden Seiten in dieſen
Partheikämpfen verübt wurden, iſt notoriſch. Ob der einzelne Fall wahr-
heitsgemäß uns berichtet iſt oder nicht, iſt daher völlig gleichgültig.
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[184/0198] ſtattzufinden pflegte, verſchloſſen fand — der Biſchof Maſſalski war der Sohn des Feldherrn —, conſtituirte er das Tribunal in deſſen Sitzungsſaal. Kein Anhänger der Czartoryski war zugegen. Sie reichten ein proteſtirendes Manifeſt bei dem Grodgericht ein: der Feldherr Maſſalski verweigerte dem Tri- bunal die gewohnte Ehrenwache. Am folgenden Morgen ver- breitete ſich die Kunde, daß die Ruſſen nächſtens über die Düna gehen würden. Ein ruſſiſcher Offizier (Puſzkin?) er- klärte Radzivil, daß er nach dem Willen der Kaiſerin be- obachten werde, wie das Tribunal in Sachen der Gegenparthei verfahren werde. Radzivil antwortete mit Würde, er ſei nur dem Könige und der Republik verantwortlich. An demſelben Tage wurden aus unbekannter Veranlaſſung in den Straßen von Wilna mehrfache Schüſſe gewechſelt. Wie die Urtheile des Tribunals in Proceſſen der Gegenparthei ausfielen, kann man ſich leicht denken 1). Ganz Lithauen ſtand ſofort ſo zu ſagen in Flammen. Jede Parthei fürchtete von der andern jeden Augenblick überfallen und gemißhandelt zu werden. Beide fingen an, ſich zur Ver- theidigung zu rüſten. Radzivil vermehrte ſeine Truppen und die Zahl ſeiner „Weißhemden“, während auf der andern Seite Flemming, der Schwiegerſohn des Kanzlers, unter dem Vor- wande der Übung die ſeinigen um Terespol und Woljn zu- ſammenzog; um die Mitte Juni hatte er bereits 2 Mil- 1) Ich bin bei dieſer Erzählung ausſchließlich Szujski IV, 356—357 gefolgt, welcher ſich für die Einzelheiten auf ungedruckte Briefe des Bi- ſchofs Kraſinski und Brzoſtowski an Mniszek beruft. Rulhiere II, 48 berichtet mehrfach abweichend. — Die Czartoryski meldeten in ihrem Me- morial vom 21. Auguſt nach Petersburg (Biblioteka Ossol., p. 19 und Schmitt I, 369), daß das Tribunal einen Sielicki, der den Schädel eines ſeiner von dem Chef der Radzivilſchen Raufbolde, Wolodkowicz, erſchlagnen Leute, bei ſeiner Klage vorzeigte, zu einer Buße zu Gunſten des Todſchlägers verurtheilt habe. Das Andenken an Wolodkowicz hat ſich mit dem ſeines Herrn Radzivil in der Überlieferung bis heute er- halten. Daß die ſchwerſten Gewaltthaten von beiden Seiten in dieſen Partheikämpfen verübt wurden, iſt notoriſch. Ob der einzelne Fall wahr- heitsgemäß uns berichtet iſt oder nicht, iſt daher völlig gleichgültig.

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Zitationshilfe: Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roepell_polen_1876/198>, abgerufen am 24.11.2024.