Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

Bild:
<< vorherige Seite

zu der Vermutung, dass die erste bildliche Gestaltung dieses Vor-
gangs überhaupt erst im fünften Jahrhundert, also in der Periode,
in welcher die Schale gemalt wurde, erfolgt ist, eine Annahme,
zu der auch die verhältnismässig grosse Anzahl der beteiligten
Personen vortrefflich stimmt. Zwei gewappnete Krieger, ohne Zweifel
Achäer, haben zwei Trojaner, die in der durch die nächtliche Über-
rumpelung hervorgerufenen Verwirrung bloss eine Chlamys umwer-
fen und ein Schwert ergreifen konnten, niedergeworfen und tötlich
verwundet; neben dem einen dieser Gefallenen, dessen Kopf im Tode
zurücksinkt und dessen Hand das Schwert fallen lässt, eilt mit
geschwungener Mörserkeule14) eine Frau herbei; sie trägt blossen
Chiton, denn den Überwurf anzulegen hatte sie keine Zeit: sie
ward überrascht, wie die Männer; rechts von ihr flieht ein
Knabe, und weiter links zwischen den beiden Griechen, eine
Frau mit aufgelöstem Haar, entsetzt den Kopf nach dem einen,
jugendlicheren Griechen hinwendend.

Dass einst alle diese Figuren Namensbeischriften hatten,
ist wohl kaum zu bezweifeln; erhalten sind davon nur vier und
von diesen nur zwei ohne Weiteres verständlich. Sie belehren
uns, dass das kühne Weib Andromache, der fliehende Knabe ihr
Sohn Astyanax ist. Da wir nun den Tod des letzteren auf
der andern Seite gefunden haben, so folgt, dass die Scenen
der beiden Seiten nicht gleichzeitig, sondern zeitlich auf ein-
ander folgend zu denken sind, und natürlich die Scene mit
Priamos und Astyanax Tod die spätere ist.15) Wer aber ist
der Troer, den Andromache rächt, und wer der Grieche, den sie
bedroht? Die Beischrift bezeichnet den ersteren als [ - 8 Zeichen fehlen]

14) Zuerst von Heydemann erkannt (Iliupersis S. 24); vgl. Blümner Tech-
nologie S. 17 f.
15) Brunn a. a. O. S. 91 meint zwar, dass durch das Fortlaufen der Dar-
stellung unter dem einen Henkel die Einheit des ganzen Bildes stark betont
werde, allein, um nur ein Beispiel von vielen anzuführen, auch auf der Tri-
ptolemosschale desselben Brygos (Wiener Vorlegebl. Ser. VIII Taf. II vgl.
Anm. 1), die doch zeitlich und örtlich weit auseinanderliegende und von ein-
ander ganz unabhängige Vorgänge darstellt, fehlt nicht nur unter dem Henkel
jedes trennende Ornament, sondern die Zeichnung der einen Seite greift
sogar tief in die der anderen hinein. S. unten Kap. III S. 88.

zu der Vermutung, daſs die erste bildliche Gestaltung dieses Vor-
gangs überhaupt erst im fünften Jahrhundert, also in der Periode,
in welcher die Schale gemalt wurde, erfolgt ist, eine Annahme,
zu der auch die verhältnismäſsig groſse Anzahl der beteiligten
Personen vortrefflich stimmt. Zwei gewappnete Krieger, ohne Zweifel
Achäer, haben zwei Trojaner, die in der durch die nächtliche Über-
rumpelung hervorgerufenen Verwirrung bloſs eine Chlamys umwer-
fen und ein Schwert ergreifen konnten, niedergeworfen und tötlich
verwundet; neben dem einen dieser Gefallenen, dessen Kopf im Tode
zurücksinkt und dessen Hand das Schwert fallen läſst, eilt mit
geschwungener Mörserkeule14) eine Frau herbei; sie trägt bloſsen
Chiton, denn den Überwurf anzulegen hatte sie keine Zeit: sie
ward überrascht, wie die Männer; rechts von ihr flieht ein
Knabe, und weiter links zwischen den beiden Griechen, eine
Frau mit aufgelöstem Haar, entsetzt den Kopf nach dem einen,
jugendlicheren Griechen hinwendend.

Daſs einst alle diese Figuren Namensbeischriften hatten,
ist wohl kaum zu bezweifeln; erhalten sind davon nur vier und
von diesen nur zwei ohne Weiteres verständlich. Sie belehren
uns, daſs das kühne Weib Andromache, der fliehende Knabe ihr
Sohn Astyanax ist. Da wir nun den Tod des letzteren auf
der andern Seite gefunden haben, so folgt, daſs die Scenen
der beiden Seiten nicht gleichzeitig, sondern zeitlich auf ein-
ander folgend zu denken sind, und natürlich die Scene mit
Priamos und Astyanax Tod die spätere ist.15) Wer aber ist
der Troer, den Andromache rächt, und wer der Grieche, den sie
bedroht? Die Beischrift bezeichnet den ersteren als [ – 8 Zeichen fehlen]

14) Zuerst von Heydemann erkannt (Iliupersis S. 24); vgl. Blümner Tech-
nologie S. 17 f.
15) Brunn a. a. O. S. 91 meint zwar, daſs durch das Fortlaufen der Dar-
stellung unter dem einen Henkel die Einheit des ganzen Bildes stark betont
werde, allein, um nur ein Beispiel von vielen anzuführen, auch auf der Tri-
ptolemosschale desselben Brygos (Wiener Vorlegebl. Ser. VIII Taf. II vgl.
Anm. 1), die doch zeitlich und örtlich weit auseinanderliegende und von ein-
ander ganz unabhängige Vorgänge darstellt, fehlt nicht nur unter dem Henkel
jedes trennende Ornament, sondern die Zeichnung der einen Seite greift
sogar tief in die der anderen hinein. S. unten Kap. III S. 88.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0077" n="63"/>
zu der Vermutung, da&#x017F;s die erste bildliche Gestaltung dieses Vor-<lb/>
gangs überhaupt erst im fünften Jahrhundert, also in der Periode,<lb/>
in welcher die Schale gemalt wurde, erfolgt ist, eine Annahme,<lb/>
zu der auch die verhältnismä&#x017F;sig gro&#x017F;se Anzahl der beteiligten<lb/>
Personen vortrefflich stimmt. Zwei gewappnete Krieger, ohne Zweifel<lb/>
Achäer, haben zwei Trojaner, die in der durch die nächtliche Über-<lb/>
rumpelung hervorgerufenen Verwirrung blo&#x017F;s eine Chlamys umwer-<lb/>
fen und ein Schwert ergreifen konnten, niedergeworfen und tötlich<lb/>
verwundet; neben dem einen dieser Gefallenen, dessen Kopf im Tode<lb/>
zurücksinkt und dessen Hand das Schwert fallen lä&#x017F;st, eilt mit<lb/>
geschwungener Mörserkeule<note place="foot" n="14)">Zuerst von Heydemann erkannt (Iliupersis S. 24); vgl. Blümner Tech-<lb/>
nologie S. 17 f.</note> eine Frau herbei; sie trägt blo&#x017F;sen<lb/>
Chiton, denn den Überwurf anzulegen hatte sie keine Zeit: sie<lb/>
ward überrascht, wie die Männer; rechts von ihr flieht ein<lb/>
Knabe, und weiter links zwischen den beiden Griechen, eine<lb/>
Frau mit aufgelöstem Haar, entsetzt den Kopf nach dem einen,<lb/>
jugendlicheren Griechen hinwendend.</p><lb/>
          <p>Da&#x017F;s einst alle diese Figuren Namensbeischriften hatten,<lb/>
ist wohl kaum zu bezweifeln; erhalten sind davon nur vier und<lb/>
von diesen nur zwei ohne Weiteres verständlich. Sie belehren<lb/>
uns, da&#x017F;s das kühne Weib Andromache, der fliehende Knabe ihr<lb/>
Sohn Astyanax ist. Da wir nun den Tod des letzteren auf<lb/>
der andern Seite gefunden haben, so folgt, da&#x017F;s die Scenen<lb/>
der beiden Seiten nicht gleichzeitig, sondern zeitlich auf ein-<lb/>
ander folgend zu denken sind, und natürlich die Scene mit<lb/>
Priamos und Astyanax Tod die spätere ist.<note place="foot" n="15)">Brunn a. a. O. S. 91 meint zwar, da&#x017F;s durch das Fortlaufen der Dar-<lb/>
stellung unter dem einen Henkel die Einheit des ganzen Bildes stark betont<lb/>
werde, allein, um nur ein Beispiel von vielen anzuführen, auch auf der Tri-<lb/>
ptolemosschale desselben Brygos (Wiener Vorlegebl. Ser. VIII Taf. II vgl.<lb/>
Anm. 1), die doch zeitlich und örtlich weit auseinanderliegende und von ein-<lb/>
ander ganz unabhängige Vorgänge darstellt, fehlt nicht nur unter dem Henkel<lb/>
jedes trennende Ornament, sondern die Zeichnung der einen Seite greift<lb/>
sogar tief in die der anderen hinein. S. unten Kap. III S. 88.</note> Wer aber ist<lb/>
der Troer, den Andromache rächt, und wer der Grieche, den sie<lb/>
bedroht? Die Beischrift bezeichnet den ersteren als <gap unit="chars" quantity="8"/><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[63/0077] zu der Vermutung, daſs die erste bildliche Gestaltung dieses Vor- gangs überhaupt erst im fünften Jahrhundert, also in der Periode, in welcher die Schale gemalt wurde, erfolgt ist, eine Annahme, zu der auch die verhältnismäſsig groſse Anzahl der beteiligten Personen vortrefflich stimmt. Zwei gewappnete Krieger, ohne Zweifel Achäer, haben zwei Trojaner, die in der durch die nächtliche Über- rumpelung hervorgerufenen Verwirrung bloſs eine Chlamys umwer- fen und ein Schwert ergreifen konnten, niedergeworfen und tötlich verwundet; neben dem einen dieser Gefallenen, dessen Kopf im Tode zurücksinkt und dessen Hand das Schwert fallen läſst, eilt mit geschwungener Mörserkeule 14) eine Frau herbei; sie trägt bloſsen Chiton, denn den Überwurf anzulegen hatte sie keine Zeit: sie ward überrascht, wie die Männer; rechts von ihr flieht ein Knabe, und weiter links zwischen den beiden Griechen, eine Frau mit aufgelöstem Haar, entsetzt den Kopf nach dem einen, jugendlicheren Griechen hinwendend. Daſs einst alle diese Figuren Namensbeischriften hatten, ist wohl kaum zu bezweifeln; erhalten sind davon nur vier und von diesen nur zwei ohne Weiteres verständlich. Sie belehren uns, daſs das kühne Weib Andromache, der fliehende Knabe ihr Sohn Astyanax ist. Da wir nun den Tod des letzteren auf der andern Seite gefunden haben, so folgt, daſs die Scenen der beiden Seiten nicht gleichzeitig, sondern zeitlich auf ein- ander folgend zu denken sind, und natürlich die Scene mit Priamos und Astyanax Tod die spätere ist. 15) Wer aber ist der Troer, den Andromache rächt, und wer der Grieche, den sie bedroht? Die Beischrift bezeichnet den ersteren als ________ 14) Zuerst von Heydemann erkannt (Iliupersis S. 24); vgl. Blümner Tech- nologie S. 17 f. 15) Brunn a. a. O. S. 91 meint zwar, daſs durch das Fortlaufen der Dar- stellung unter dem einen Henkel die Einheit des ganzen Bildes stark betont werde, allein, um nur ein Beispiel von vielen anzuführen, auch auf der Tri- ptolemosschale desselben Brygos (Wiener Vorlegebl. Ser. VIII Taf. II vgl. Anm. 1), die doch zeitlich und örtlich weit auseinanderliegende und von ein- ander ganz unabhängige Vorgänge darstellt, fehlt nicht nur unter dem Henkel jedes trennende Ornament, sondern die Zeichnung der einen Seite greift sogar tief in die der anderen hinein. S. unten Kap. III S. 88.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/77
Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/77>, abgerufen am 22.11.2024.