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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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diese Künstler, wie gar bald auch die einfachen Kunsthandwerker,
unmittelbar in der Volkssage. Die speciell attischen Sagen, die
für die Kunst durchaus, für die Poesie wenigstens grösstenteils terra
vergine
waren, dominieren nun gar bald wie auf den Wänden der
Tempel und Hallen, so auf den bescheidenen Gerätschaften des täg-
lichen Lebens, vor allen der Vasen; so die der ältesten attischen
Mythenschicht angehörigen Sagen von der Geburt und Pflege des
Erichthonios und vom Raub der Oreithyia, die jüngeren Sagen
von den attischen Abenteuern des Theseus 35), die eleusinische Sage
von der Ausfahrt des Triptolemos, die paralische Sage vom schönen
Jäger Kephalos 36). Es ist als ob ein Bann, der auf der attischen
Sagenwelt gelegen, auf einmal gebrochen sei, da nun der
Athener nicht bloss die fremden durch ionisches Epos und do-
rische Lyrik ihm zugeführten und freilich seit lange vertrauten
Geschichten, sondern auch die ganz eigentlich auf attischem
Boden gewachsenen und an der attischen Landschaft haftenden
Sagen im Bildwerk vor sich sieht. Ob und wie diese attischen
Lokalmythen vor dem fünften Jahrhundert poetisch fixiert worden

35) S. Philologische Untersuchungen I. Heft S. 43.
36) Kephalos erscheint aber nicht bloss als Jäger, sondern mit allen
Attributen des attischen Knaben und Jünglings; mit dem Diptychon des
Knaben, der zum grammatistes geht, und mit der Leier, die keineswegs den
Sänger andeutet, sondern nur den gebildeten Athener, der kitharizein epista-
tai oder, wenn er knabenhaft erscheint, eis kitharistou erkhetai. Es ist des-
halb nicht nur, wie Helbig richtig gesehen hat, die neue Hermonaxvase (B.
d. I. 1873 p. 167. Arch. Zeit. 1878 S. 112), sondern sämmtliche Darstellungen,
auf denen eine geflügelte Frau einen Jüngling mit der Leier verfolgt, auf
Eos und Kephalos zu deuten. O. Jahns Bedenken (Arch. Beitr. S. 99), es sei
nicht erlaubt hier Kephalos zu erkennen, weil diesem die Sage nicht den
Zug ephebischer Bildung gegeben habe, dass er mit Leier und Büchern um-
zugehen wusste, kann heute schwerlich mehr aufrecht erhalten werden.
Auch ohne dass die Sage oder die Poesie es vorgebildet hat, kann Kephalos
einfach als attischer Jüngling oder Knabe erscheinen, mit demselben Rechte
wie Ganymed mit dem Spielzeug attischer Knaben, dem Reifen, und in Be-
gleitung eines Pädagogen auf attischen Vasen erscheint, da doch Sage und
Poesie ihn als Hirtenknaben kennen. Die Beischriften Nika und Linos auf
einer zu dieser Klasse gehörigen Berliner Vase (Arch. Zeit. 1848 Taf. 21, 1),
welche unserer Auffassung widersprachen, sind jetzt von Körte und Furt-

diese Künstler, wie gar bald auch die einfachen Kunsthandwerker,
unmittelbar in der Volkssage. Die speciell attischen Sagen, die
für die Kunst durchaus, für die Poesie wenigstens gröſstenteils terra
vergine
waren, dominieren nun gar bald wie auf den Wänden der
Tempel und Hallen, so auf den bescheidenen Gerätschaften des täg-
lichen Lebens, vor allen der Vasen; so die der ältesten attischen
Mythenschicht angehörigen Sagen von der Geburt und Pflege des
Erichthonios und vom Raub der Oreithyia, die jüngeren Sagen
von den attischen Abenteuern des Theseus 35), die eleusinische Sage
von der Ausfahrt des Triptolemos, die paralische Sage vom schönen
Jäger Kephalos 36). Es ist als ob ein Bann, der auf der attischen
Sagenwelt gelegen, auf einmal gebrochen sei, da nun der
Athener nicht bloſs die fremden durch ionisches Epos und do-
rische Lyrik ihm zugeführten und freilich seit lange vertrauten
Geschichten, sondern auch die ganz eigentlich auf attischem
Boden gewachsenen und an der attischen Landschaft haftenden
Sagen im Bildwerk vor sich sieht. Ob und wie diese attischen
Lokalmythen vor dem fünften Jahrhundert poetisch fixiert worden

35) S. Philologische Untersuchungen I. Heft S. 43.
36) Kephalos erscheint aber nicht bloſs als Jäger, sondern mit allen
Attributen des attischen Knaben und Jünglings; mit dem Diptychon des
Knaben, der zum γραμματιστής geht, und mit der Leier, die keineswegs den
Sänger andeutet, sondern nur den gebildeten Athener, der κιϑαρίζειν ἐπίστα-
ται oder, wenn er knabenhaft erscheint, εἰς κιϑαριστοῦ ἔρχεται. Es ist des-
halb nicht nur, wie Helbig richtig gesehen hat, die neue Hermonaxvase (B.
d. I. 1873 p. 167. Arch. Zeit. 1878 S. 112), sondern sämmtliche Darstellungen,
auf denen eine geflügelte Frau einen Jüngling mit der Leier verfolgt, auf
Eos und Kephalos zu deuten. O. Jahns Bedenken (Arch. Beitr. S. 99), es sei
nicht erlaubt hier Kephalos zu erkennen, weil diesem die Sage nicht den
Zug ephebischer Bildung gegeben habe, daſs er mit Leier und Büchern um-
zugehen wuſste, kann heute schwerlich mehr aufrecht erhalten werden.
Auch ohne daſs die Sage oder die Poesie es vorgebildet hat, kann Kephalos
einfach als attischer Jüngling oder Knabe erscheinen, mit demselben Rechte
wie Ganymed mit dem Spielzeug attischer Knaben, dem Reifen, und in Be-
gleitung eines Pädagogen auf attischen Vasen erscheint, da doch Sage und
Poesie ihn als Hirtenknaben kennen. Die Beischriften Νίκα und Λίνος auf
einer zu dieser Klasse gehörigen Berliner Vase (Arch. Zeit. 1848 Taf. 21, 1),
welche unserer Auffassung widersprachen, sind jetzt von Körte und Furt-
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[32/0046] diese Künstler, wie gar bald auch die einfachen Kunsthandwerker, unmittelbar in der Volkssage. Die speciell attischen Sagen, die für die Kunst durchaus, für die Poesie wenigstens gröſstenteils terra vergine waren, dominieren nun gar bald wie auf den Wänden der Tempel und Hallen, so auf den bescheidenen Gerätschaften des täg- lichen Lebens, vor allen der Vasen; so die der ältesten attischen Mythenschicht angehörigen Sagen von der Geburt und Pflege des Erichthonios und vom Raub der Oreithyia, die jüngeren Sagen von den attischen Abenteuern des Theseus 35), die eleusinische Sage von der Ausfahrt des Triptolemos, die paralische Sage vom schönen Jäger Kephalos 36). Es ist als ob ein Bann, der auf der attischen Sagenwelt gelegen, auf einmal gebrochen sei, da nun der Athener nicht bloſs die fremden durch ionisches Epos und do- rische Lyrik ihm zugeführten und freilich seit lange vertrauten Geschichten, sondern auch die ganz eigentlich auf attischem Boden gewachsenen und an der attischen Landschaft haftenden Sagen im Bildwerk vor sich sieht. Ob und wie diese attischen Lokalmythen vor dem fünften Jahrhundert poetisch fixiert worden 35) S. Philologische Untersuchungen I. Heft S. 43. 36) Kephalos erscheint aber nicht bloſs als Jäger, sondern mit allen Attributen des attischen Knaben und Jünglings; mit dem Diptychon des Knaben, der zum γραμματιστής geht, und mit der Leier, die keineswegs den Sänger andeutet, sondern nur den gebildeten Athener, der κιϑαρίζειν ἐπίστα- ται oder, wenn er knabenhaft erscheint, εἰς κιϑαριστοῦ ἔρχεται. Es ist des- halb nicht nur, wie Helbig richtig gesehen hat, die neue Hermonaxvase (B. d. I. 1873 p. 167. Arch. Zeit. 1878 S. 112), sondern sämmtliche Darstellungen, auf denen eine geflügelte Frau einen Jüngling mit der Leier verfolgt, auf Eos und Kephalos zu deuten. O. Jahns Bedenken (Arch. Beitr. S. 99), es sei nicht erlaubt hier Kephalos zu erkennen, weil diesem die Sage nicht den Zug ephebischer Bildung gegeben habe, daſs er mit Leier und Büchern um- zugehen wuſste, kann heute schwerlich mehr aufrecht erhalten werden. Auch ohne daſs die Sage oder die Poesie es vorgebildet hat, kann Kephalos einfach als attischer Jüngling oder Knabe erscheinen, mit demselben Rechte wie Ganymed mit dem Spielzeug attischer Knaben, dem Reifen, und in Be- gleitung eines Pädagogen auf attischen Vasen erscheint, da doch Sage und Poesie ihn als Hirtenknaben kennen. Die Beischriften Νίκα und Λίνος auf einer zu dieser Klasse gehörigen Berliner Vase (Arch. Zeit. 1848 Taf. 21, 1), welche unserer Auffassung widersprachen, sind jetzt von Körte und Furt-

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/46>, abgerufen am 29.03.2024.