Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

Bild:
<< vorherige Seite

lichen Unterschenkel haltend; er ist also damit beschäftigt, einen
der Gefährten des Odysseus zu verzehren. Dieser selbst steht vor
ihm, mit der rechten Hand ihm den Becher reichend, aber gleich-
zeitig fasst seine linke Hand einen gewaltigen Pfahl, der auf seiner
und der drei hinter ihm herschreitenden Genossen Schultern ruht;
er will das spitze Ende desselben in das Stirnauge des Kyklopen
bohren. Auch hier also hat der Verfertiger sämmtliche Momente
des Abenteuers auf einmal dargestellt und dadurch eine ebenso
unmögliche wie lächerliche Scene uns vorgeführt; der Kyklop
kann weder den Becher ergreifen, den ihm Odysseus bietet, da
seine beiden Hände beschäftigt sind, noch ist es denkbar, dass
er in wachem und nüchternem Zustand sich geduldig den Pfahl
in die Stirn bohren lassen würde 16).

Dieselbe Unbestimmtheit, wie hinsichtlich der Zeit, herrscht
in dieser ersten Kunstperiode auch hinsichtlich des Ortes der
Handlung. Dies zeigt sich, da eine Andeutung der Lokalität
in der Regel fehlt, namentlich in der Anwesenheit von Personen,
welche an dem Ort der Haupthandlung unmöglich anwesend sein
können. So finden wir bei dem Kampf des Theseus mit dem
Minotauros, dessen Schauplatz selbstverständlich das Innere
des Labyrinthes ist 17), nicht nur die dem Tod geweihten
athenischen Knaben und Mädchen, sondern auch Minos und
Ariadne, ja auch die Amme der letzteren gegenwärtig; so ist bei
der Scene, wo Achilleus die beiden trojanischen Königskinder
Troilos und Polyxena beim Brunnen vor der Stadt überfällt,
Priamos selbst zugegen 18), so ist endlich bei der Ermordung der
Ismene durch Tydeus, die im Gemach der thebanischen Königs-
tochter erfolgt, der Knappe des Tydeus, Klytios, hoch zu Ross,
anwesend 19).


Vase stammenden Teller (M. d. I. I tav. VII, 1. Overbeck her. Gall. XXXI 4)
im Auge.
16) S. Luckenbach a. a. O. S. 505.
17) Z. B. auf der attischen Vase des Archikles und Glaukytes (M. d. I.
IV tav. LIX Gerhard A. V. 235. 236), auf der chalkidischen Vase (M. d. I.
VI tav. XV) u. öfter.
18) Auf der korinthischen Vase Arch. Zeit. 1863 T. 175.
19) M. d. I. VI tav. XIV. Wiener Vorlegeblätter Ser. III T. I 2. Welcker,

lichen Unterschenkel haltend; er ist also damit beschäftigt, einen
der Gefährten des Odysseus zu verzehren. Dieser selbst steht vor
ihm, mit der rechten Hand ihm den Becher reichend, aber gleich-
zeitig faſst seine linke Hand einen gewaltigen Pfahl, der auf seiner
und der drei hinter ihm herschreitenden Genossen Schultern ruht;
er will das spitze Ende desselben in das Stirnauge des Kyklopen
bohren. Auch hier also hat der Verfertiger sämmtliche Momente
des Abenteuers auf einmal dargestellt und dadurch eine ebenso
unmögliche wie lächerliche Scene uns vorgeführt; der Kyklop
kann weder den Becher ergreifen, den ihm Odysseus bietet, da
seine beiden Hände beschäftigt sind, noch ist es denkbar, daſs
er in wachem und nüchternem Zustand sich geduldig den Pfahl
in die Stirn bohren lassen würde 16).

Dieselbe Unbestimmtheit, wie hinsichtlich der Zeit, herrscht
in dieser ersten Kunstperiode auch hinsichtlich des Ortes der
Handlung. Dies zeigt sich, da eine Andeutung der Lokalität
in der Regel fehlt, namentlich in der Anwesenheit von Personen,
welche an dem Ort der Haupthandlung unmöglich anwesend sein
können. So finden wir bei dem Kampf des Theseus mit dem
Minotauros, dessen Schauplatz selbstverständlich das Innere
des Labyrinthes ist 17), nicht nur die dem Tod geweihten
athenischen Knaben und Mädchen, sondern auch Minos und
Ariadne, ja auch die Amme der letzteren gegenwärtig; so ist bei
der Scene, wo Achilleus die beiden trojanischen Königskinder
Troilos und Polyxena beim Brunnen vor der Stadt überfällt,
Priamos selbst zugegen 18), so ist endlich bei der Ermordung der
Ismene durch Tydeus, die im Gemach der thebanischen Königs-
tochter erfolgt, der Knappe des Tydeus, Klytios, hoch zu Roſs,
anwesend 19).


Vase stammenden Teller (M. d. I. I tav. VII, 1. Overbeck her. Gall. XXXI 4)
im Auge.
16) S. Luckenbach a. a. O. S. 505.
17) Z. B. auf der attischen Vase des Archikles und Glaukytes (M. d. I.
IV tav. LIX Gerhard A. V. 235. 236), auf der chalkidischen Vase (M. d. I.
VI tav. XV) u. öfter.
18) Auf der korinthischen Vase Arch. Zeit. 1863 T. 175.
19) M. d. I. VI tav. XIV. Wiener Vorlegeblätter Ser. III T. I 2. Welcker,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0034" n="20"/>
lichen Unterschenkel haltend; er ist also damit beschäftigt, einen<lb/>
der Gefährten des Odysseus zu verzehren. Dieser selbst steht vor<lb/>
ihm, mit der rechten Hand ihm den Becher reichend, aber gleich-<lb/>
zeitig fa&#x017F;st seine linke Hand einen gewaltigen Pfahl, der auf seiner<lb/>
und der drei hinter ihm herschreitenden Genossen Schultern ruht;<lb/>
er will das spitze Ende desselben in das Stirnauge des Kyklopen<lb/>
bohren. Auch hier also hat der Verfertiger sämmtliche Momente<lb/>
des Abenteuers auf einmal dargestellt und dadurch eine ebenso<lb/>
unmögliche wie lächerliche Scene uns vorgeführt; der Kyklop<lb/>
kann weder den Becher ergreifen, den ihm Odysseus bietet, da<lb/>
seine beiden Hände beschäftigt sind, noch ist es denkbar, da&#x017F;s<lb/>
er in wachem und nüchternem Zustand sich geduldig den Pfahl<lb/>
in die Stirn bohren lassen würde <note place="foot" n="16)">S. Luckenbach a. a. O. S. 505.</note>.</p><lb/>
          <p>Dieselbe Unbestimmtheit, wie hinsichtlich der Zeit, herrscht<lb/>
in dieser ersten Kunstperiode auch hinsichtlich des Ortes der<lb/>
Handlung. Dies zeigt sich, da eine Andeutung der Lokalität<lb/>
in der Regel fehlt, namentlich in der Anwesenheit von Personen,<lb/>
welche an dem Ort der Haupthandlung unmöglich anwesend sein<lb/>
können. So finden wir bei dem Kampf des Theseus mit dem<lb/>
Minotauros, dessen Schauplatz selbstverständlich das Innere<lb/>
des Labyrinthes ist <note place="foot" n="17)">Z. B. auf der attischen Vase des Archikles und Glaukytes (M. d. I.<lb/>
IV tav. LIX Gerhard A. V. 235. 236), auf der chalkidischen Vase (M. d. I.<lb/>
VI tav. XV) u. öfter.</note>, nicht nur die dem Tod geweihten<lb/>
athenischen Knaben und Mädchen, sondern auch Minos und<lb/>
Ariadne, ja auch die Amme der letzteren gegenwärtig; so ist bei<lb/>
der Scene, wo Achilleus die beiden trojanischen Königskinder<lb/>
Troilos und Polyxena beim Brunnen vor der Stadt überfällt,<lb/>
Priamos selbst zugegen <note place="foot" n="18)">Auf der korinthischen Vase Arch. Zeit. 1863 T. 175.</note>, so ist endlich bei der Ermordung der<lb/>
Ismene durch Tydeus, die im Gemach der thebanischen Königs-<lb/>
tochter erfolgt, der Knappe des Tydeus, Klytios, hoch zu Ro&#x017F;s,<lb/>
anwesend <note xml:id="seg2pn_4_1" next="#seg2pn_4_2" place="foot" n="19)">M. d. I. VI tav. XIV. Wiener Vorlegeblätter Ser. III T. I 2. Welcker,</note>.</p><lb/>
          <p>
            <note xml:id="seg2pn_3_2" prev="#seg2pn_3_1" place="foot" n="15)">Vase stammenden Teller (M. d. I. I tav. VII, 1. Overbeck her. Gall. XXXI 4)<lb/>
im Auge.</note>
          </p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0034] lichen Unterschenkel haltend; er ist also damit beschäftigt, einen der Gefährten des Odysseus zu verzehren. Dieser selbst steht vor ihm, mit der rechten Hand ihm den Becher reichend, aber gleich- zeitig faſst seine linke Hand einen gewaltigen Pfahl, der auf seiner und der drei hinter ihm herschreitenden Genossen Schultern ruht; er will das spitze Ende desselben in das Stirnauge des Kyklopen bohren. Auch hier also hat der Verfertiger sämmtliche Momente des Abenteuers auf einmal dargestellt und dadurch eine ebenso unmögliche wie lächerliche Scene uns vorgeführt; der Kyklop kann weder den Becher ergreifen, den ihm Odysseus bietet, da seine beiden Hände beschäftigt sind, noch ist es denkbar, daſs er in wachem und nüchternem Zustand sich geduldig den Pfahl in die Stirn bohren lassen würde 16). Dieselbe Unbestimmtheit, wie hinsichtlich der Zeit, herrscht in dieser ersten Kunstperiode auch hinsichtlich des Ortes der Handlung. Dies zeigt sich, da eine Andeutung der Lokalität in der Regel fehlt, namentlich in der Anwesenheit von Personen, welche an dem Ort der Haupthandlung unmöglich anwesend sein können. So finden wir bei dem Kampf des Theseus mit dem Minotauros, dessen Schauplatz selbstverständlich das Innere des Labyrinthes ist 17), nicht nur die dem Tod geweihten athenischen Knaben und Mädchen, sondern auch Minos und Ariadne, ja auch die Amme der letzteren gegenwärtig; so ist bei der Scene, wo Achilleus die beiden trojanischen Königskinder Troilos und Polyxena beim Brunnen vor der Stadt überfällt, Priamos selbst zugegen 18), so ist endlich bei der Ermordung der Ismene durch Tydeus, die im Gemach der thebanischen Königs- tochter erfolgt, der Knappe des Tydeus, Klytios, hoch zu Roſs, anwesend 19). 15) 16) S. Luckenbach a. a. O. S. 505. 17) Z. B. auf der attischen Vase des Archikles und Glaukytes (M. d. I. IV tav. LIX Gerhard A. V. 235. 236), auf der chalkidischen Vase (M. d. I. VI tav. XV) u. öfter. 18) Auf der korinthischen Vase Arch. Zeit. 1863 T. 175. 19) M. d. I. VI tav. XIV. Wiener Vorlegeblätter Ser. III T. I 2. Welcker, 15) Vase stammenden Teller (M. d. I. I tav. VII, 1. Overbeck her. Gall. XXXI 4) im Auge.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/34
Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/34>, abgerufen am 22.11.2024.