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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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über letzteres geben Pausanias und Lysimachos einzelne Notizen,
von ersterem setzt man voraus, dass er doch wenigstens noch
den Ausbruch des Zwistes zwischen Aias und Odysseus enthalten
habe. Aber man wird noch weiter gehen und die Möglichkeit
zugeben müssen, dass auch noch früher fallende Ereignisse, wie
der Tod des Achill, in diesem Gedicht behandelt gewesen sein
können. Ich weiss wohl, dass man gegen diese Annahme zweierlei
einwenden kann und einzuwenden pflegt. Einmal die Dar-
stellungen der capitolinischen tabula iliaca, auf welcher der
der kleinen Ilias gewidmete Streifen mit dem in Wahnwitz ver-
sunken dasitzenden Aias beginnt; aber derselbe Streifen endet
auch mit der Einführung des troischen Pferdes, stimmt also
im Anfange und Ende sowie auch in den einzelnen Scenen
genau mit dem Bericht des Proklos über die kleine Ilias
überein, ein Zusammentreffen, aus welchem bereits Michaelis
den in der That unabweisbaren Schluss gezogen hat, dass Proklos
nicht erst selbst jene Kürzung und Umarbeitung der Hypotheseis
vorgenommen hat, sondern sie bereits in mythologischen Hand-
büchern vorfand, und dass auf diese selben Handbücher eben auch
die Darstellungen der tabulae iliacae zurückgehen. Zweitens
könnte man entgegnen, dass unter den Stoffen, welche Aristoteles
an der bekannten Stelle seiner Poetik aufzählt, der früheste die
Oplon krisis ist. Allein einmal ist Vollständigkeit an jener
Stelle von Aristoteles nicht zu erwarten, denn er zählt natürlich
nur die klassischen Stücke auf, und dann haben wir in der That
keine Kunde davon, dass einer der grossen Tragiker den Tod
des Achilleus behandelt habe, auch nicht Aischylos, denn die be-
rühmte, unvergleichlich schöne Klage der Thetis (fr. 340 Nauck)
setzt man mit Recht in die Oplon krisis. So bleibt es eben
dabei, dass wir nicht wissen, inwieweit noch Ereignisse, die vor
den Waffenstreit fallen, in der kleinen Ilias erzählt waren.

Aithiopis und kleine Ilias stellen sich somit als zwei selb-
ständig nebeneinander stehende Fortsetzungen der Ilias dar, die
sich nicht ergänzen, sondern ausschliessen, und zwar in dem
Sinne, dass das zweifellos jüngere von beiden Gedichten, die
kleine Ilias, mit Bewusstsein gewisse Züge des älteren ändert und

über letzteres geben Pausanias und Lysimachos einzelne Notizen,
von ersterem setzt man voraus, daſs er doch wenigstens noch
den Ausbruch des Zwistes zwischen Aias und Odysseus enthalten
habe. Aber man wird noch weiter gehen und die Möglichkeit
zugeben müssen, daſs auch noch früher fallende Ereignisse, wie
der Tod des Achill, in diesem Gedicht behandelt gewesen sein
können. Ich weiſs wohl, daſs man gegen diese Annahme zweierlei
einwenden kann und einzuwenden pflegt. Einmal die Dar-
stellungen der capitolinischen tabula iliaca, auf welcher der
der kleinen Ilias gewidmete Streifen mit dem in Wahnwitz ver-
sunken dasitzenden Aias beginnt; aber derselbe Streifen endet
auch mit der Einführung des troischen Pferdes, stimmt also
im Anfange und Ende sowie auch in den einzelnen Scenen
genau mit dem Bericht des Proklos über die kleine Ilias
überein, ein Zusammentreffen, aus welchem bereits Michaelis
den in der That unabweisbaren Schluſs gezogen hat, daſs Proklos
nicht erst selbst jene Kürzung und Umarbeitung der Hypotheseis
vorgenommen hat, sondern sie bereits in mythologischen Hand-
büchern vorfand, und daſs auf diese selben Handbücher eben auch
die Darstellungen der tabulae iliacae zurückgehen. Zweitens
könnte man entgegnen, daſs unter den Stoffen, welche Aristoteles
an der bekannten Stelle seiner Poetik aufzählt, der früheste die
Ὅπλων κρίσις ist. Allein einmal ist Vollständigkeit an jener
Stelle von Aristoteles nicht zu erwarten, denn er zählt natürlich
nur die klassischen Stücke auf, und dann haben wir in der That
keine Kunde davon, daſs einer der groſsen Tragiker den Tod
des Achilleus behandelt habe, auch nicht Aischylos, denn die be-
rühmte, unvergleichlich schöne Klage der Thetis (fr. 340 Nauck)
setzt man mit Recht in die Ὅπλων κρίσις. So bleibt es eben
dabei, daſs wir nicht wissen, inwieweit noch Ereignisse, die vor
den Waffenstreit fallen, in der kleinen Ilias erzählt waren.

Aithiopis und kleine Ilias stellen sich somit als zwei selb-
ständig nebeneinander stehende Fortsetzungen der Ilias dar, die
sich nicht ergänzen, sondern ausschlieſsen, und zwar in dem
Sinne, daſs das zweifellos jüngere von beiden Gedichten, die
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[224/0238] über letzteres geben Pausanias und Lysimachos einzelne Notizen, von ersterem setzt man voraus, daſs er doch wenigstens noch den Ausbruch des Zwistes zwischen Aias und Odysseus enthalten habe. Aber man wird noch weiter gehen und die Möglichkeit zugeben müssen, daſs auch noch früher fallende Ereignisse, wie der Tod des Achill, in diesem Gedicht behandelt gewesen sein können. Ich weiſs wohl, daſs man gegen diese Annahme zweierlei einwenden kann und einzuwenden pflegt. Einmal die Dar- stellungen der capitolinischen tabula iliaca, auf welcher der der kleinen Ilias gewidmete Streifen mit dem in Wahnwitz ver- sunken dasitzenden Aias beginnt; aber derselbe Streifen endet auch mit der Einführung des troischen Pferdes, stimmt also im Anfange und Ende sowie auch in den einzelnen Scenen genau mit dem Bericht des Proklos über die kleine Ilias überein, ein Zusammentreffen, aus welchem bereits Michaelis den in der That unabweisbaren Schluſs gezogen hat, daſs Proklos nicht erst selbst jene Kürzung und Umarbeitung der Hypotheseis vorgenommen hat, sondern sie bereits in mythologischen Hand- büchern vorfand, und daſs auf diese selben Handbücher eben auch die Darstellungen der tabulae iliacae zurückgehen. Zweitens könnte man entgegnen, daſs unter den Stoffen, welche Aristoteles an der bekannten Stelle seiner Poetik aufzählt, der früheste die Ὅπλων κρίσις ist. Allein einmal ist Vollständigkeit an jener Stelle von Aristoteles nicht zu erwarten, denn er zählt natürlich nur die klassischen Stücke auf, und dann haben wir in der That keine Kunde davon, daſs einer der groſsen Tragiker den Tod des Achilleus behandelt habe, auch nicht Aischylos, denn die be- rühmte, unvergleichlich schöne Klage der Thetis (fr. 340 Nauck) setzt man mit Recht in die Ὅπλων κρίσις. So bleibt es eben dabei, daſs wir nicht wissen, inwieweit noch Ereignisse, die vor den Waffenstreit fallen, in der kleinen Ilias erzählt waren. Aithiopis und kleine Ilias stellen sich somit als zwei selb- ständig nebeneinander stehende Fortsetzungen der Ilias dar, die sich nicht ergänzen, sondern ausschlieſsen, und zwar in dem Sinne, daſs das zweifellos jüngere von beiden Gedichten, die kleine Ilias, mit Bewuſstsein gewisse Züge des älteren ändert und

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/238>, abgerufen am 03.05.2024.