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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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des Epos die Memnonepisode als nicht notwendig zum troischen
Krieg gehörig betrachtet wurde, beweist das Fehlen derselben in
der kleinen Ilias. Wie verträgt sich dies Alles mit ihrer Geltung
als Kern- und Knotenpunkt der Sage?

Aber auch wer den Wert der troischen Helden nicht nach
ihrer Beziehung zu Achilleus misst, sondern der Meinung ist,
dass sie als selbständige Figuren im Lied der Dichter und in
der Vorstellung des Volkes leben und zum Teil in der letzteren
unabhängig von der Ilias und lange, bevor es troische Sagen gab,
gelebt haben, auch ein solcher oder vielmehr gerade ein solcher
wird über die Bedeutung des Sarpedon nicht im Zweifel sein, er
wird wissen, dass diese Gestalt der des Memnon mindestens
gleichberechtigt gegenübersteht, ursprünglich sie sogar an Be-
deutung überragte.

Sarpedon ist der Landesheros des südwestlichen Teiles der
kleinasiatischen Küste, der Landschaften Karien und Lykien,
ganz in demselben Sinne wie Telephos der von Mysien, Hektor
der der Troas ist, der Geburt nach aber ist er beiden als Sohn
des höchsten Gottes überlegen. Der homerischen Version, die
ihn mütterlicherseits zum Enkel des Bellerophon macht, steht
die hesiodeische47) gegenüber, die ihm die Europa zur Mutter,
Minos und Rhadamanthys zu Brüdern giebt. Es kann sein, dass
das poetische Weiterbildung ist; wahrscheinlicher aber ist, dass
diese Version dieselben, ja höhere Ansprüche hat, für die ur-
sprüngliche zu gelten, als die homerische; jedesfalls ward sie
zur Volksvorstellung; denn Herodot, ein für karische und lykische
Lokalsagen doch gewiss im höchsten Grade massgebender Ge-

47) Hesiod. fr. XXXIX Marksch. (schol. Il. M 292. schol. (Eur.) Rhes. 28.)
Dass die pragmatisierende Mythenforschung schon im Altertum den Sarpedon
der Ilias von dem gleichnamigen Sohn der Europa unterscheiden zu müssen
glaubt (schol. Rhes. 28), darf uns in der richtigen Auffassung des Sachverhalts
nicht irre machen. Die Schwierigkeit musste sich herausstellen, sobald man
die Heroen kata geneas ordnete; aber in der älteren Zeit scheint man unbe-
fangen genug gewesen zu sein, sich mit der Annahme zu helfen, dass Zeus
seinem Sohne verliehen habe epi treis geneas zen (Apollod. III 1, 2, 3). Vgl.
Weil Revue de philologie IV 145.
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des Epos die Memnonepisode als nicht notwendig zum troischen
Krieg gehörig betrachtet wurde, beweist das Fehlen derselben in
der kleinen Ilias. Wie verträgt sich dies Alles mit ihrer Geltung
als Kern- und Knotenpunkt der Sage?

Aber auch wer den Wert der troischen Helden nicht nach
ihrer Beziehung zu Achilleus miſst, sondern der Meinung ist,
daſs sie als selbständige Figuren im Lied der Dichter und in
der Vorstellung des Volkes leben und zum Teil in der letzteren
unabhängig von der Ilias und lange, bevor es troische Sagen gab,
gelebt haben, auch ein solcher oder vielmehr gerade ein solcher
wird über die Bedeutung des Sarpedon nicht im Zweifel sein, er
wird wissen, daſs diese Gestalt der des Memnon mindestens
gleichberechtigt gegenübersteht, ursprünglich sie sogar an Be-
deutung überragte.

Sarpedon ist der Landesheros des südwestlichen Teiles der
kleinasiatischen Küste, der Landschaften Karien und Lykien,
ganz in demselben Sinne wie Telephos der von Mysien, Hektor
der der Troas ist, der Geburt nach aber ist er beiden als Sohn
des höchsten Gottes überlegen. Der homerischen Version, die
ihn mütterlicherseits zum Enkel des Bellerophon macht, steht
die hesiodeische47) gegenüber, die ihm die Europa zur Mutter,
Minos und Rhadamanthys zu Brüdern giebt. Es kann sein, daſs
das poetische Weiterbildung ist; wahrscheinlicher aber ist, daſs
diese Version dieselben, ja höhere Ansprüche hat, für die ur-
sprüngliche zu gelten, als die homerische; jedesfalls ward sie
zur Volksvorstellung; denn Herodot, ein für karische und lykische
Lokalsagen doch gewiſs im höchsten Grade maſsgebender Ge-

47) Hesiod. fr. XXXIX Marksch. (schol. Il. Μ 292. schol. (Eur.) Rhes. 28.)
Daſs die pragmatisierende Mythenforschung schon im Altertum den Sarpedon
der Ilias von dem gleichnamigen Sohn der Europa unterscheiden zu müssen
glaubt (schol. Rhes. 28), darf uns in der richtigen Auffassung des Sachverhalts
nicht irre machen. Die Schwierigkeit muſste sich herausstellen, sobald man
die Heroen κατὰ γενεάς ordnete; aber in der älteren Zeit scheint man unbe-
fangen genug gewesen zu sein, sich mit der Annahme zu helfen, daſs Zeus
seinem Sohne verliehen habe ἐπὶ τρεῖς γενεὰς ζῆν (Apollod. III 1, 2, 3). Vgl.
Weil Revue de philologie IV 145.
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[115/0129] des Epos die Memnonepisode als nicht notwendig zum troischen Krieg gehörig betrachtet wurde, beweist das Fehlen derselben in der kleinen Ilias. Wie verträgt sich dies Alles mit ihrer Geltung als Kern- und Knotenpunkt der Sage? Aber auch wer den Wert der troischen Helden nicht nach ihrer Beziehung zu Achilleus miſst, sondern der Meinung ist, daſs sie als selbständige Figuren im Lied der Dichter und in der Vorstellung des Volkes leben und zum Teil in der letzteren unabhängig von der Ilias und lange, bevor es troische Sagen gab, gelebt haben, auch ein solcher oder vielmehr gerade ein solcher wird über die Bedeutung des Sarpedon nicht im Zweifel sein, er wird wissen, daſs diese Gestalt der des Memnon mindestens gleichberechtigt gegenübersteht, ursprünglich sie sogar an Be- deutung überragte. Sarpedon ist der Landesheros des südwestlichen Teiles der kleinasiatischen Küste, der Landschaften Karien und Lykien, ganz in demselben Sinne wie Telephos der von Mysien, Hektor der der Troas ist, der Geburt nach aber ist er beiden als Sohn des höchsten Gottes überlegen. Der homerischen Version, die ihn mütterlicherseits zum Enkel des Bellerophon macht, steht die hesiodeische 47) gegenüber, die ihm die Europa zur Mutter, Minos und Rhadamanthys zu Brüdern giebt. Es kann sein, daſs das poetische Weiterbildung ist; wahrscheinlicher aber ist, daſs diese Version dieselben, ja höhere Ansprüche hat, für die ur- sprüngliche zu gelten, als die homerische; jedesfalls ward sie zur Volksvorstellung; denn Herodot, ein für karische und lykische Lokalsagen doch gewiſs im höchsten Grade maſsgebender Ge- 47) Hesiod. fr. XXXIX Marksch. (schol. Il. Μ 292. schol. (Eur.) Rhes. 28.) Daſs die pragmatisierende Mythenforschung schon im Altertum den Sarpedon der Ilias von dem gleichnamigen Sohn der Europa unterscheiden zu müssen glaubt (schol. Rhes. 28), darf uns in der richtigen Auffassung des Sachverhalts nicht irre machen. Die Schwierigkeit muſste sich herausstellen, sobald man die Heroen κατὰ γενεάς ordnete; aber in der älteren Zeit scheint man unbe- fangen genug gewesen zu sein, sich mit der Annahme zu helfen, daſs Zeus seinem Sohne verliehen habe ἐπὶ τρεῖς γενεὰς ζῆν (Apollod. III 1, 2, 3). Vgl. Weil Revue de philologie IV 145. 8*

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/129>, abgerufen am 24.11.2024.