Rilke, Rainer Maria: Advent. Leipzig, 1898.Du hast so grosse Augen, Kind. Du siehst gewiss oft nachts Gestalten,Die, fremd und bleich, in marmorkalten Traumhänden rothe Kronen halten, Um die ein Leuchten leise rinnt. Dann ist Dein Blick am Tag wie blind, Und Deine Seele wie zerspalten, Dann bangt Dir vor dem Alltagsalten, Wenn Wünsche sich in Dir entfalten, Die Allen andern Wahnsinn sind. Dann ist die Sehnsucht Dir erwacht, Stolz zu entfliehn den eitlen SchreiernDie plump, mit Händen, blöd und bleiern, Auf Deiner Silberseele leiern Das irre Lied, das sterblich macht. Zu fliehn in eine blaue Nacht, Drin alle Wipfel lauschend feiern, Der Glieder Hymne zu entschleiern Und scheu im Schooss von weissen Weihern Zu finden ihre nackte Pracht. Du hast so grosse Augen, Kind. Du siehst gewiss oft nachts Gestalten,Die, fremd und bleich, in marmorkalten Traumhänden rothe Kronen halten, Um die ein Leuchten leise rinnt. Dann ist Dein Blick am Tag wie blind, Und Deine Seele wie zerspalten, Dann bangt Dir vor dem Alltagsalten, Wenn Wünsche sich in Dir entfalten, Die Allen andern Wahnsinn sind. Dann ist die Sehnsucht Dir erwacht, Stolz zu entfliehn den eitlen SchreiernDie plump, mit Händen, blöd und bleiern, Auf Deiner Silberseele leiern Das irre Lied, das sterblich macht. Zu fliehn in eine blaue Nacht, Drin alle Wipfel lauschend feiern, Der Glieder Hymne zu entschleiern Und scheu im Schooss von weissen Weihern Zu finden ihre nackte Pracht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0071" n="71"/> <lg n="45"> <l rendition="#et">Du hast so grosse Augen, Kind.<lb/></l> <l>Du siehst gewiss oft nachts Gestalten,<lb/></l> <l>Die, fremd und bleich, in marmorkalten<lb/></l> <l>Traumhänden rothe Kronen halten,<lb/></l> <l>Um die ein Leuchten leise rinnt.<lb/></l> <l>Dann ist Dein Blick am Tag wie blind,<lb/></l> <l>Und Deine Seele wie zerspalten,<lb/></l> <l>Dann bangt Dir vor dem Alltagsalten,<lb/></l> <l>Wenn Wünsche sich in Dir entfalten,<lb/></l> <l>Die Allen andern Wahnsinn sind.<lb/></l> </lg> <lg n="46"> <l rendition="#et">Dann ist die Sehnsucht Dir erwacht,<lb/></l> <l>Stolz zu entfliehn den eitlen Schreiern<lb/></l> <l>Die plump, mit Händen, blöd und bleiern,<lb/></l> <l>Auf Deiner Silberseele leiern<lb/></l> <l>Das irre Lied, das sterblich macht.<lb/></l> <l>Zu fliehn in eine blaue Nacht,<lb/></l> <l>Drin alle Wipfel lauschend feiern,<lb/></l> <l>Der Glieder Hymne zu entschleiern<lb/></l> <l>Und scheu im Schooss von weissen Weihern<lb/></l> <l>Zu finden ihre nackte Pracht.<lb/></l> </lg> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [71/0071]
Du hast so grosse Augen, Kind.
Du siehst gewiss oft nachts Gestalten,
Die, fremd und bleich, in marmorkalten
Traumhänden rothe Kronen halten,
Um die ein Leuchten leise rinnt.
Dann ist Dein Blick am Tag wie blind,
Und Deine Seele wie zerspalten,
Dann bangt Dir vor dem Alltagsalten,
Wenn Wünsche sich in Dir entfalten,
Die Allen andern Wahnsinn sind.
Dann ist die Sehnsucht Dir erwacht,
Stolz zu entfliehn den eitlen Schreiern
Die plump, mit Händen, blöd und bleiern,
Auf Deiner Silberseele leiern
Das irre Lied, das sterblich macht.
Zu fliehn in eine blaue Nacht,
Drin alle Wipfel lauschend feiern,
Der Glieder Hymne zu entschleiern
Und scheu im Schooss von weissen Weihern
Zu finden ihre nackte Pracht.
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Zitationshilfe: | Rilke, Rainer Maria: Advent. Leipzig, 1898, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rilke_advent_1898/71>, abgerufen am 16.07.2024. |